Plattformarbeiter:innen: Falsch klassifiziert
Plattformökonomie boomt: Allein in den Monaten April und Mai 2020 erhielt beispielsweise das Unternehmen Lieferando mehr als 40 Prozent mehr Bestellungen als vor Corona. Weniger profitabel ist die Situation ihrer Beschäftigten. Viele Plattformarbeiter:innen verdienen oft nicht mal den Durchschnittsstundenlohn in ihrem Land und sind bei vielen Plattformen scheinselbstständig beschäftigt.
Neben Essenszusteller:innen, arbeiten Nachhilfelehrer:innen, Clickworker:innen und Übersetzer:innen auf rund 500 digitalen Plattformen in Europa. Die EU-Kommission geht von bis zu 28 Millionen Beschäftigten in der Plattformökonomie aus, wovon bis zu fünf Millionen Menschen falsch klassifiziert sein könnten. „Das bedeutet, dass sie entweder eigentlich einen Arbeitsvertrag haben sollten, aber als Selbstständige tätig sind, oder vice versa als Selbstständige in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Plattformen stehen und nicht frei über ihre Tätigkeit entscheiden können“, sagt Robert Walasinski aus dem internationalen Referat des ÖGB.
„Es gibt nicht die typischen Plattformarbeiter:innen“
Der Beschäftigtenstatus war bereits dutzendfach ein Fall für die Gerichte in den Mitgliedsstaaten, inklusive Strafzahlungen für Unternehmen in Italien oder Spanien. „Es werden existierende arbeitsrechtliche und kollektivvertragsrechtliche Bestimmungen schlichtweg ignoriert, womit sich die Plattformen einen Wettbewerbsvorteil erschaffen haben und Unternehmen, die nicht das Kapital für Strafzahlungen oder Verfahren aufbringen wollen, werden vom Markt gedrängt“, so Walasinski.
Vielfalt trifft nicht nur auf die Arbeitsbereiche bei Plattformarbeit zu, sondern auch auf die Mitarbeiter:innen. „Es gibt nicht die typischen Plattformarbeiter:innen, die Beschäftigten sind sehr heterogen“, sagt Adele Siegl, Betriebsrätin des Lieferservices Mjam. Viele arbeiten für mehrere Plattformen und in unterschiedlichen Bereichen. Essen ausliefern, Texte übersetzen und für Uber fahren muss sich nicht ausschließen.
Es werden existierende arbeitsrechtliche und kollektivvertragsrechtliche Bestimmungen schlichtweg ignoriert.
Robert Walasinski, Internationales Referat des ÖGB.
Auch der Hintergrund der Menschen ist sehr divers. Studierende machen diese Arbeiten genauso, wie Personen, die schnell eine Arbeit benötigen oder prinzipiell flexibel arbeiten möchten. Die Arbeitsverhältnisse bei den Plattformen und in den EU-Staaten unterscheiden sich stark. Radbot:innen in Österreich haben zum Beispiel, im Vergleich zu vielen anderen Plattformbeschäftigten, mittlerweile einen Kollektivvertrag. Es gibt aber auch Schlupflöcher für die Beschäftigung von Plattformarbeiter:innen: „Bei freien Dienstnehmer:innen in Österreich gibt es keine genauen gesetzlichen Regelungen, daher sehe ich die Dienstverhältnisse als halblegal an“, so Stiegl.
Mehrheit im EU-Parlament
Im EU-Parlament will man sich der Plattformarbeiter:innen nun annehmen: Anfang Februar einigte sich das EU-Parlament nach monatelangen Diskussionen auf einen Richtlinienentwurf. Im Entwurf ist eine Beschäftigungsvermutung für selbstständige Plattformarbeiter:innen festgeschrieben, welche die Rechte der Arbeitnehmer:innen besser sichern soll. Da viele Plattformarbeiter:innen ihre Aufträge digital und mit Algorithmen übermittelt bekommen, finden sich auch Schutzstandards für das Management durch Algorithmen.
„Wir begrüßen diese Abstimmung, da es sich um einen progressiven Gegenentwurf handelt, der unsere Positionen aufgenommen hat. Das bedeutet aber eben nicht, dass die Direktive so aussehen wird, sondern, dass es jetzt das Mandat gibt, um über dieses Dokument als Grundlage weiterzuverhandeln“, sagt Walasinski. Denn die institutionellen Verhandlungen zwischen Parlament, Kommission und Rat werden in den kommenden Monaten stattfinden.
Millionen Beschäftigte bei Plattformen in der EU brauchen endlich faire Arbeitsbedingungen.
Wolfgang Katzian, ÖGB-Präsident
Aktuell ist die Grundannahme bei der Direktive folgende: Unternehmen haben Angestellte, solange sie nicht das Gegenteil beweisen können. Wenn es sich bei ihren Mitarbeiter:innen um selbstständige Arbeitnehmer:innen handelt, sind die Plattform in der Pflicht, dies zu beweisen.
Kritikpunkte am Entwurf
„Kritisch zu betrachten, bleibt die tatsächliche Umsetzung der Richtlinie, in welcher Form auch immer, da es noch nicht absehbar ist, welche Instanzen in der Umsetzung und Kontrolle tätig werden sollen, als auch die Auswirkungen auf die österreichische Besonderheit des freien Dienstvertrages, welcher bei Plattformen sehr gerne zur Anwendung kommt“, meint Walasinski hinsichtlich des weiteren Verlaufs des Richtlinienentwurfs. Länder wie Spanien, Belgien, Deutschland oder die Niederlande stehen hinter dem aktuellen Entwurf, Polen oder Frankreich sehen hingegen die Selbstständigkeit in Gefahr.
Wenig überraschendes Ergebnis einer Studie über die #Arbeitsbedingungen bei Uber, Lieferando & Co in Österreich: #Plattformarbeit ist mehrheitlich von Prekarität geprägt.
Markus Griesser, @martinrisak und Laura Vogel über @TowardsFairWork: https://t.co/mUCjuQzor1 pic.twitter.com/SaIzgdV0dX
— A&W Blog (@AundW) July 7, 2022
Im Ministerrat werden aktuell unter der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft die Verhandlungen fortgesetzt. ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian fordert mehr Tempo bei den Verhandlungen: „Millionen Beschäftigte bei Plattformen in der EU brauchen endlich faire Arbeitsbedingungen. Jetzt liegt der Ball beim Rat!“ Walasinski vom internationalen Büro des ÖGB bleibt, was die Umsetzung bei der Direktive betrifft, realistisch. „Wir erwarten uns nicht, dass der Report, wie vom Parlament verabschiedet, auch die tatsächliche Direktive wird. Uns ist durchaus bewusst, dass es zu weiteren Kompromissen und Verwässerungen kommen wird.“