Historie: Wohnrecht gegen Marktfreiheit

Auf einer Seite bauen Männer mit Werkzeugen an einer Baustelle Steine ab, auf denen sozialstaatliche Schlagwörter stehen. Auf der anderen Seite wird ein Haus mit Ziegeln aufgebaut, auf denen sozialstaatliche Errungenschaften stehen. Symbolbild für den Abbau des Mieter:innenschutz im konservativen Sozialabbauprogramm.
Unter dem Titel „Aufbau und Abbau“ griff die „Arbeiter-Zeitung“ 1923 das konservative Sozialabbauprogramm an.
© Arbeiter-Zeitung v. 16. 9. 1923, S. 7
Im Nationalratswahlkampf 1923 stand das Thema „leistbares Wohnen“ im Zentrum. Benedikt Kautsky, der damalige Chefökonom der Arbeiterkammer, verteidigte in A&W den Mieter:innenschutz.
Der Nationalratswahlkampf 1923 war von heftigen Auseinandersetzungen um den in den ersten Jahren der demokratischen Republik aufgebauten Sozialstaat geprägt. Und im Zentrum der Debatten ganz eindeutig der Mieter:innenschutz. Erst 1922 hatte ein neues Gesetz die Verordnungen aus der Kriegszeit abgelöst. Dieses sah erstmals einen – zeitlich begrenzten – Mietpreisdeckel und Kündigungsschutz vor. Das Mietgesetz 1922 brachte für ganz Österreich dauerhafte Mietzinsbeschränkungen, einen gesetzlichen Kündigungsschutz und vor allem das Aus für die meisten befristeten Verträge.

[D]ie Volkswirtschaft [würde] zugunsten einer dünnen Schicht
schwer geschädigt werden. 

Benedikt Kautsky, Chefökonom der AK

Diese Regelung bedeutete natürlich einen massiven Eingriff des Sozialstaats in den „freien Markt“. Sehr zum Unmut der Konservativen und Nationalliberalen, die nur zähneknirschend zugestimmt hatten. Vor allem die Christlichsoziale Partei mit Bundeskanzler Ignaz Seipel lief im Wahlkampf gegen das Beibehalten des Gesetzes Sturm, denn diese Notlösung hätte mittlerweile ihre Berechtigung verloren. Seipel erklärte bei einem Wahlkampfauftritt in Linz: „Eine Bautätigkeit auf die Dauer ist unmöglich, wenn es sich für den Privatkapitalisten nicht rentiert … Es muss offen gesagt werden, dass wir auch dieses Kriegsersatzmittel für den freien Wohnungsmarkt einmal aus der Welt schaffen müssen.“

Hohe Zinsen und schlechte Wohnungen statt Mieter:innenschutz

Arbeiterkammern und Freie Gewerkschaften verteidigten dagegen zusammen mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei den Mieter:innenschutz. Benedikt Kautsky betonte damals ganz klar: „Das, was sie wollen, ist nicht Vermehrung der Wohnungen, … sondern Herstellung ihres alten Ideals: hohe Zinse, schlechte Wohnungen und völlige Entrechtung des Mieters. … [D]ie Volkswirtschaft [würde] zugunsten einer dünnen Schicht schwer geschädigt werden.“

Der Mieter:innenschutz blieb schließlich aufrecht, weil er auch vielen kleinen Gewerbebetrieben Vorteile brachte. Erst ab den 1990er-Jahren wurde der von Seipel geforderte „freie Wohnungsmarkt“ bestimmend. Mit den vorausgesehenen sozialen Folgen.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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