Für die Fabriken der ersten und zweiten Industrialisierungswelle zeigt sich aber ein vielschichtigeres Bild. Zwar war wie überall Kinderarbeit üblich und der Lohn reichte gerade einmal aus, um das Leben zu fristen. Aber im Vergleich zur Bedrohung durch Hunger am Land und im Kleingewerbe bot die Fabrik zu Beginn der Industrialisierung eine halbwegs sichere Existenz. Gewerkschaften kannten die ArbeiterInnen noch nicht, und selbst der deutsche Arbeiterführer Ferdinand Lassalle meinte, dass sie nicht mehr Lohn beanspruchen dürften, als sie zu einem menschenwürdigen Leben benötigten, weil sonst die Wirtschaft zusammenbrechen würde.
Abgesehen davon stellten viele der frühen FabrikarbeiterInnen, eingeschult auf die damals neuesten Technologien, für die UnternehmerInnen wertvolles „Humankapital“ dar. Wohnungen, Schulen und Gesundheitsversorgung sahen sie deshalb als sinnvolle Investitionen an. Ein gutes Beispiel dafür, aber auch für die weitere Entwicklung im Hochkapitalismus, schilderte die Sozialforscherin Marie Jahoda im ersten Kapitel der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“:
… im Jahre 1830 war (Hermann Todesko) auf der Suche nach einem geeigneten Platz für eine Flachsspinnerei auch nach Marienthal gekommen, das dazu wie geschaffen war … Bald ging Todesko zur Baumwollspinnerei über, die Fabrik wurde vergrößert. … Zwar waren die Löhne knapp, und schon die Kinder mussten in drei Schichten … arbeiten; aber niemand in der Welt kannte es damals anders. Und die Leute kamen gern nach Marienthal, weil die Wohnungen gut waren und sie sicheres Brot … fanden. Entlassungen kamen kaum vor; wer einmal in Marienthal war, wurde mit Frau und Kindern in der Fabrik beschäftigt. Um die Arbeit der Frauen nicht entbehren zu müssen, errichtete Todesko eine Kinderbewahranstalt; für die älteren Kinder baute er eine Schule, in der täglich zwei Stunden unterrichtet wurde. In den sechziger Jahren wurden die Weberei und die Bleiche angegliedert. Die Fabrik wurde ein Großbetrieb … Langsam drangen auch gewerkschaftliche Ideen in Marienthal ein … Als es im Jahre 1890 zum ersten Lohnstreik kam, wurde er mit Militärhilfe niedergeschlagen.
In der Textilindustrie nahm der Wert des „Humankapitals“ mit der weiteren Technisierung ab. In der Metallindustrie hingegen, vom Lokomotivbau bis zu Wertheims feuerfesten Geldschränken, waren Arbeiter mit Spezial-Know-how weiter unverzichtbar. Dennoch blieben die sozialen Schranken auch für diese „Arbeiterelite“ aufrecht: Als Franz Wertheim 1869 ein Betriebsfest ausrichtete, waren dort neben der politischen und wirtschaftlichen Prominenz erstmals auch alle Angestellten und ArbeiterInnen geladen – aber sie hatten in getrennten Räumlichkeiten zu feiern.
Brigitte Pellar
Historikerin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/17.
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