Unser Körper gewinnt Melatonin aus dem Glückshormon Serotonin. Und das wird tagsüber gebildet. Das geht natürlich nicht, wenn man tagsüber schläft und nachts arbeitet. Die Zirbeldrüse beginnt zu arbeiten, wenn wir damit aufhören: in der Nacht. Dann schüttet sie Melatonin aus, und wir werden müde. Ist unsere innere Uhr durcheinander, löst das eine ganze Reihe von Nebenwirkungen aus. Die offensichtlichste ist, dass ein Schlafdefizit entsteht. Das führt zu Müdigkeit, Schläfrigkeit sowie eingeschränkter geistiger Leistungs- und Reaktionsfähigkeit. Ein erhöhtes Unfallrisiko ist die Folge.
Forschungen legen außerdem einen Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs nahe. Natürlich sind diese Gesundheitsprobleme nie auf eine einzige Ursache zurückzuführen. „Nächtliche Schichtarbeit erhöht das Krebsrisiko in demselben Ausmaß wie etwa der Verzehr von rotem Fleisch“, fasst die Hans-Böckler-Stiftung die bisherigen Forschungsergebnisse zusammen.
Schichtarbeit ist überall
In Österreich arbeiten etwa 20 Prozent der unselbstständig Beschäftigten in der Schichtarbeit. Das wären aktuell rund 800.000 Menschen. Die Zahl ist deswegen so hoch, weil es Schichtarbeit in beinahe jeder Branche, jedem Sektor und jeder Industrie gibt. In der Produktion von Waren ist Schichtarbeit genauso üblich wie in der Gastronomie oder im Handel. Ohne Schichtdienst würden die Gesundheitsversorgung und der öffentliche Personennahverkehr nicht so funktionieren, wie sie es tun. Zeitungen verlassen sich ebenfalls darauf. All die Menschen hinter diesen Leistungen haben keine geregelte Freizeit. Unser Alltag ist ohne Schichtarbeit nicht mehr denkbar.
Mars macht mobil
Für den Luxus eines leichten Alltags für die Gesellschaft verzichten viele Arbeitnehmer:innen im Schichtdienst regelmäßig auf Abende mit der Familie, Vereinsleben, Kultur und Freund:innen. Um zu erfahren, wie das trotzdem arbeitnehmer:innenfreundlich funktioniert, lohnt sich ein Blick zu Mars Austria. Das Unternehmen ist ein Ableger des globalen Lebensmittelkonzerns. Das Werk in Bruck an der Leitha produziert Hundefutter. Bis vor Kurzem standen dort am Sonntag die Maschinen still, wie Julius-Jürgen Mayer erklärt. Er ist der Betriebsratsvorsitzende. Dann kam Corona. „Die Pandemie hat die Arbeit nicht betroffen. Es gab keine Kurzarbeit – eher im Gegenteil. Die Haustiere haben an Stellenwert gewonnen, und viele Menschen haben sich neue angeschafft. Da ist das Vierschichtmodell an seine Grenzen gestoßen.“
Das Unternehmen verhandelte eine neue Betriebsvereinbarung aus. Seitdem müssen die Bänder nicht mehr stillstehen. Mars darf 52 Wochen lang an sieben Tagen in der Woche produzieren. Die Arbeiter:innen in der Produktion haben jetzt zwei Früh-, zwei Spät- und zwei Nachtschichten und anschließend vier Tage frei. Im Vergleich zu vorher ist der Verdienst gleich geblieben, aber die Arbeitszeit sank auf 33,6 Stunden pro Woche. „Die Leute sagen, dass man dieses Schichtmodell schon vor zwanzig Jahren hätte einführen sollen. Die Arbeiter:innen sind gesünder geworden, die Krankenstände haben sich reduziert, und die Leute sind zufriedener“, so Mayer.
Und noch eine Nebenwirkung hatte die Ausweitung der Produktion. Mars musste 42 neue Mitarbeiter:innen einstellen. Das dauerte seine Zeit. Die Fabrik musste auch im benachbarten Ungarn und in der Slowakei suchen. Bis 42 Mitarbeiter:innen gefunden waren, die langfristig bleiben wollten, mussten rund 65 angestellt werden. Doch immerhin hat es funktioniert – weil Mars mit der Verringerung der Stunden auf die Empfehlung der Gewerkschaft PRO-GE gehört hat.
Was wir bei den Kollektivvertragsverhandlungen schon gehört haben, war der Satz:
‚Wenn die Arbeitnehmer:innen nicht bereit
sind, in der Nacht zu arbeiten, dann ist
der soziale Druck noch zu gering.‘
Patrick Bauer, Abteilung für Arbeitstechnik & Gesundheit
bei der PRO-GE
Die fasst Gabriela Hiden so zusammen: „Schichtarbeit ist belastend. Die Frage ist, welche Kompensationen es gibt. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Freizeit.“ Hiden ist Leiterin der Abteilung Arbeitstechnik & Gesundheit bei der PRO-GE. Geld alleine könne das Problem nicht lösen. Denn wer Menschen dafür bezahle, dass sie auf Abende mit der Familie oder Freund:innen verzichten, müsste unweigerlich die Frage beantworten, wie viel so ein Abend denn wert sei – und das geht nicht. „Jetzt kommen vermehrt junge Leute in den Arbeitsmarkt, die keine Schichtarbeit mit belastenden Arbeitszeiten wollen. Ein Angebot an die junge Generation könnte aus meiner Sicht eine Arbeitszeitverkürzung sein.“ Bei Mars hat genau das sehr gut funktioniert.
Attraktive Schichtarbeit dank Freizeit
Funktioniert hat das auch bei der Firma Flex in Althofen (Kärnten). Etwa 1.000 Beschäftigte stellen dort elektronische Module und Komplettgeräte für Medizintechnik, Automobilindustrie und Industrietechnik her. Arbeiten die Angestellten unter der Woche in der Nachtschicht oder am Wochenende in einer Tagschicht, kriegen sie für jede Arbeitsstunde drei „Gutminuten“. An Sonn- und Feiertagen und in der samstäglichen Nachtschicht sind es sogar fünf Minuten. „Die einzelnen Minuten hören sich zunächst nicht nach viel an, aber in Summe kann dies bis zu einer Woche an zusätzlicher Freizeit im Jahr ausmachen“, rechnet Betriebsrat Wolfgang Schager vor. „Das Feedback seit der Einführung ist jedenfalls sehr gut.“
Auffällig ist, dass vor allem in Branchen, die von Schichtarbeit abhängig sind, schlechte Arbeitsbedingungen herrschen. „Die Nachtschicht ist die Schicht, die physisch sehr belastet, weil dabei gegen den natürlichen Rhythmus des Organismus gearbeitet wird. Sie ist aber nicht die unbeliebteste Schicht: Die Arbeitnehmer:innen arbeiten dort ohne Vorgesetze und beteuern immer, dass in der Nacht weniger Druck ausgeübt wird und die Arbeit leichter von der Hand geht“, diagnostiziert Hiden.
Ist der soziale Druck noch zu gering?
Das deckt sich mit den Erfahrungen von Patrick Bauer. Auch er arbeitet in der Abteilung für Arbeitstechnik & Gesundheit bei der PRO-GE und hat beispielsweise den Betriebsrat von Mars bei der Umsetzung von deren neuem Schichtmodell beraten. Er berichtet von den jüngsten Kollektivvertragsverhandlungen während der Herbstlohnrunde. Diese seien in Sachen Arbeitsdruck ernüchternd gewesen. „Was wir schon gehört haben, war der Satz: ‚Wenn die Arbeitnehmer:innen nicht bereit sind, in der Nacht zu arbeiten, dann ist der soziale Druck noch zu gering‘“, so Bauer. Die Beispiele Flex und Mars zeigen eindrücklich, dass mit der gegenteiligen Taktik sehr viel größere Erfolge erzielt werden können.
Tatsächlich hätten die jüngsten Kollektivvertragsverhandlungen gezeigt, dass Lösungen nicht an den Firmen scheitern, wie Bauer betont. „In den Betrieben kennt man die Problematik sehr gut. In den Vorgesprächen sitzen aber meist nicht die Personen, die das Unternehmen lenken. Der Personalchef weiß, warum er keine Leute findet. Er ist aber nicht derjenige, der bei den Kollektivvertragsverhandlungen sitzt.“
Mit Fakten lässt sich dabei sehr leicht argumentieren. Aktuell gibt es eine enorme Nachfrage nach Arbeitskräften. Oft passen aber einfach die Bedingungen nicht. Ein besonders prominenter Fall sind aus mehreren Gründen die Wiener Linien: zum einen, weil der öffentliche Personennahverkehr als zentraler Baustein einer Verkehrswende gilt – die Nachfrage nach deren Leistungen dürfte in Zukunft also deutlich steigen –, zum anderen aber auch, weil sich Ende vergangenen Jahres eine größere Gruppe von Straßenbahn-, U-Bahn- und Autobusfahrer:innen in einem offenen Brief über die Arbeitsbedingungen beschwert hat. „Im Fahrdienst gibt es seit mehreren Jahren eine enorm hohe Fluktuation. Nur ein sehr geringer Anteil der neuen Fahrer:innen bleibt länger als ein bis drei Jahre bei den Wiener Linien“, so die anonymen Verfasser:innen.
Modernisierung der Wiener Linien
Über die Bedeutung der Leistungen gibt es keine zwei Meinungen. „Wenn die meisten Fahrgäste noch im Bett liegen, sind die Kolleg:innen um 3:30 Uhr schon in der Dienststelle und bereiten sich auf die Schicht vor. An anderen Tagen kommen die Fahrer:innen erst in der Nacht nach Hause. Am Wochenende fahren die U-Bahnen und Nachtbusse durch. Wir sind an 365 Tagen im Jahr für die Daseinsvorsorge unterwegs“, gibt Michael Dedic im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft einen Einblick in seine Arbeit. Dedic ist stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats für Fahrzeugtechnik bei den Wiener Linien.
Eines der größten Probleme bei diesem Beruf sei der zunehmende Straßenverkehr, heißt es in dem Brief weiter. Dedic findet zwar die anonyme Kommunikation nicht gut, gibt den Absender:innen aber recht. „Wenn man mit einem tonnenschweren Gerät im öffentlichen Verkehr Fahrgäste befördert, ist das eine riesige Belastung. Man muss auf die anderen Verkehrsteilnehmer:innen achten, damit keine Unfälle passieren, und wegen der Fahrgäste die Bremswege genau im Auge behalten.“
Bezahlte Freizeit
Doch seit Ende vergangenen Jahres ist viel passiert. Zum einen brachte ein neuer KV-Abschluss eine Gehaltserhöhung um 7,32 Prozent, mindestens aber 210 Euro. Das bedeutet, dass die unteren Einkommen um bis zu 11,62 Prozent erhöht wurden. Auch die Zulagen, die vor allem den Schichtdienst betreffen, stiegen um bis zu 50 Prozent an. Dazu kamen Extraprämien für Weihnachten und Silvester. „Es könnte natürlich immer mehr sein, aber bei den letzten Kollektivvertragsverhandlungen konnten wir schon große Erfolge erzielen“, fasst Dedic das Ergebnis zusammen. Die aktuelle Ausdünnung des Fahrplans sei außerdem eine Maßnahme zur Entlastung der Mitarbeiter:innen. Auch hier greift die Grundregel, dass vor allem mehr Freizeit und die Absenkung des Arbeitsdrucks zu mehr Zufriedenheit beitragen.
Deswegen erhalten Mitarbeiter:innen im Fahrdienst ab dem Jahr 2026 auch bezahlte Freizeit: zunächst zwölf Dienste (oder „Freischichten“), ab dem Jahr 2028 noch einmal drei weitere. „Diese Maßnahme trägt entscheidend zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei und steigert die Attraktivität des Fahrdienstes“, kommentiert der Betriebsrat diesen Aspekt des neuen Kollektivvertrags.
Das ist wichtig. Denn aus Sicht der Hans-Böckler-Stiftung ist eine rein monetäre Kompensation sogar gefährlich. Denn gerade jüngere Beschäftigte würden oft mit belastenden Schichten noch gut zurechtkommen und sie sogar gezielt machen, um so ihren Verdienst aufzubessern. „Die finanziellen Anreize führen dazu, dass die Beschäftigten freiwillig oder aus finanziellen Zwängen heraus ungesunde Arbeitszeiten und Überstunden befürworten“, heißt es in einem Report der Stiftung zu dem Thema.
Wie schon die PRO-GE empfiehlt auch die Hans-Böckler-Stiftung vor allem eine Arbeitszeitverkürzung. Dazu kommen Faktoren, die selbstverständlich klingen, es aber im Arbeitsalltag längst nicht sind – wie eine Minimierung von Nachtarbeit, eine gute Pausengestaltung, genügend Ruhezeiten sowie planbare und vorhersehbare Arbeitszeiten. Die Arbeitgeber:innen stünden hier in der Pflicht, Produktionsabläufe und Arbeitsorganisation anzupassen.
Auch Hiden betont, dass es hier vonseiten der Unternehmen noch großen Nachholbedarf gibt. „Das größte Problem, mit dem wir kämpfen, heißt Flexibilisierung. Es gibt wechselnde und unterschiedliche Anforderungen an Betriebslaufzeiten seitens der Produktionsabläufe – beispielsweise Lieferschwierigkeiten oder schwer berechenbare Auftragssituationen. Diese Problematik überträgt sich dann auf die Arbeitszeitgestaltung für die Arbeitnehmer:innen. Der Wunsch ist natürlich, dies so günstig wie möglich abdecken zu können. Ob kurze oder lange Woche, hängt von der Nachfrage ab. Damit ist die Freizeit nicht mehr planbar.“
Ausbildungsoffensive
Eine zweite Möglichkeit, trotz Schichtdienst ausreichend Arbeitnehmer:innen zu haben, ist die Aus- und Weiterbildung. Auch hier ist Mars wieder ein gutes Beispiel. Seit 35 Jahren gab es in Bruck an der Leitha keine Lehrlinge mehr, erklärt Mayer. Mit der Umstellung auf den Fünfschichtbetrieb stellte das Unternehmen erstmals wieder welche eine. Dort können junge Menschen jetzt eine Ausbildung zum:zur Elektriker:in machen. Hintergrund ist, dass die Maschinen derart speziell sind, dass die Umschulung bereits fertig ausgebildeter Elektriker:innen so lange braucht, dass sich auch eine eigene Ausbildung lohnt. So wird gegen einen zukünftigen Personalmangel früh vorgesorgt.
Auch bei den Wiener Linien soll die Ausbildung der Fahrer:innen an die aktuellen Anforderungen angepasst werden. Grundsätzlich dauere die Ausbildung mehrere Wochen. Sie ließe sich auch nicht wesentlich verkürzen. „Bewerber:innen gibt es. Aber die Ausbildung dauert ihre Zeit. Weil die Sicherheit der Fahrgäste im Vordergrund steht, kann man sie auch nicht komprimieren“, so Dedic. Was die Wiener Linien aber machen können, ist, die Schulung um Deutschkurse zu erweitern. Diese würden die Chancen vieler Kandidat:innen, den Test zu bestehen, deutlich erhöhen.
Menschen in Schichtarbeit sind für unsere Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Sie erhalten kritische Infrastruktur und die grundlegenden Leistungen des Sozialstaates am Laufen. Und sie versorgen ihre Mitbürger:innen mit den Waren und Dienstleistungen, die den Alltag erleichtern. Das müssen Firmen würdigen – indem sie bei der Arbeitszeit und der Vergütung mit der Zeit gehen. Ein Ausverkauf der kritischen Infrastruktur an Investoren darf nicht stattfinden.