Historie: „In einen Markt verliebst du dich nicht“

Foto (C) EC - Audiovisual Service/ Photo: Mauro Bottar
ESSR-Banner am Gebäude der EU-Kommission in Brüssel. Das Banner am Gebäude der EU-Kommission in Brüssel verweist auf das 2017 von der EU-Kommission erstmals wieder proklamierte Ziel einer „Europäischen Säule sozialer Rechte“. Ob es ohne Änderung der neoliberalen Politikideologie der EU erreichbar ist, bezweifeln viele.
Die VorkämpferInnen eines vereinten Europas wussten, dass die Einigung nur in einem sozialen Europa gelingen kann.
Schon bei den ersten Plänen zur Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg forderte die Gewerkschaftsbewegung, dass dabei die Förderung des Sozialstaats eine ebenso große Rolle spielen müsse wie rein wirtschaftliche Überlegungen. Dazu kam es nicht. Die Integration beschränkte sich vorerst auf die Schaffung einer gemeinsamen Marktwirtschaft – Sozial- und Verteilungspolitik sollten Sache der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben.

Aber noch bis zum Ende der 1970er-Jahre herrschte die allgemeine Überzeugung, dass soziale Rechte auch auf einem freien Markt schützenswert seien. Als Jacques Delors, der Präsident der Europäischen Kommission, in den 1980er-Jahren die Vereinigung der europäischen Staaten zur Union vorantrieb, kämpfte er für das Beibehalten dieses Prinzips. Ein freier Markt allein, davon war Delors überzeugt, sei zu wenig, um das europäische Friedensprojekt abzusichern, denn You don’t fall in love with a market – in einen Markt verliebst du dich nicht, selbst wenn er Vorteile wie die Reisefreiheit oder eine gemeinsame Währung bringt. Doch gegen die zunehmend vorherrschende Wirtschafts- und Gesellschaftsideologie hatte die „soziale Dimension“ vorerst wenig Chancen, das musste auch Delors erkennen. Trotzdem hoffte er auf ein Umdenken und hielt sogar funktionierende europäische Tarifverträge für nicht ausgeschlossen, wie er in einem Referat bei einer Tagung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1994 feststellte:

… wie können die aufgezeigten Fehlentwicklungen korrigiert werden? Zunächst besteht keinerlei Anlass, auf das zu verzichten, worauf wir weiterhin stolz sein können und wofür wir eintreten werden: das europäische Gesellschaftsmodell. … Der Rückgriff auf die altvertrauten Rezepte wie Rückzug auf den Protektionismus, drastische Senkung der Einkommen oder Herabsetzen der Normen bei der sozialen Sicherung würde in jedem Falle in eine gefährliche Sackgasse führen. Untätigkeit aber würde das Aus bedeuten. Wir müssen also die defensive Haltung aufgeben und die sozialen Errungenschaften an den gesellschaftlichen Wandel anpassen, anstatt sie aufzugeben. Für diese Anpassungen müssen Solidarität und Verantwortung auf den verschiedensten Ebenen zum Tragen kommen, wobei in beiden Fällen vorrangig die Sozialpartner die auslösenden Kräfte sein sollten.

Trotz aller Schwierigkeiten wollen wir die soziale Dimension in ganz Europa stärken. Sie wissen, dass ich mich seit 1985 dafür eingesetzt habe und das auch weiterhin tun werde. … Wir haben einen brauchbaren Rahmen geschaffen. Jetzt liegt es an uns, ihn auszufüllen, damit wir eines Tages zu europäischen Tarifverträgen gelangen. Wir können aber nur dann Erfolg haben, wenn wir die Werte und Grundsätze, die unsere Identität ausmachen, bestätigen. Vor allem müssen wir klarstellen, dass es keinen sozialen Fortschritt ohne wirtschaftliche Entwicklung gibt, dass aber umgekehrt auch keine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung möglich ist, wenn die soziale Dimension vernachlässigt wird. Dies gilt für das Unternehmen, für den einzelnen Staat, jedoch auch für Europa.

Ausgewählt und kommentiert von:

Brigitte Pellar
Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/18.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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