Eine Gemeinde am Ende der Welt
Vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs, also vor 33 Jahren, sei hier das Ende der Welt gewesen. „Für viele ist das heute noch so“, sagt Zonschits weiter. Seit 1995, also seit 27 Jahren, verbindet Angern eine Fähre mit der slowakischen Nachbargemeinde Záhorská Ves (Ungeraigen, wie das Dorf auf Deutsch genannt wird). 800 Grenzübertritte werden hier durchschnittlich gezählt – täglich. Es sind vor allem Slowak:innen, die nach Österreich zum Arbeiten pendeln. Österreicher:innen fahren noch immer nur vereinzelt hinüber, um günstig einzukaufen. Viele Slowak:innen sprechen Deutsch, die Österreicher:innen sowieso. Zonschits hat einen guten Draht zum Nachbarbürgermeister und tauscht sich regelmäßig mit ihm aus. Beide finden, dass „die Infrastruktur nicht auf dem Stand der Technik ist“. Eine Brücke über die March wäre gut. „Aber südlich von Angern“, wie er betont, „damit nicht der ganze Verkehr unseren Ort überfährt“.
Und Angern ist eine Zuzugsgemeinde. Es sind aber nicht die Slowak:innen, die hier sesshaft werden wollen, sondern die Gänserndorfer:innen, die Strasshofer:innen oder die Deutsch-Wagramer:innen, weil Bauplätze in Angern etwa ein Zehntel von jenen in Gänserndorf kosten. „Wir könnten von Gänserndorfer:innen überschwemmt werden“, behauptet er. „Aber die Arbeitsplatzsituation ist bei uns eine Katastrophe“, sagt er im gleichen Atemzug. Die Industriemontagefirma IMB Berger ist mit rund 100 Arbeitsplätzen der größte Arbeitgeber. Dann folgt schon die Gemeinde mit rund 40 Angestellten. Dahiner kommen eine Dachdeckerei und Spenglerei und dann lange nichts. Die nächstgrößeren Arbeitgeber sind zwei Supermärkte und eine Tischlerei. Dazu kommen zwei Filialen einer Bäckerei, vier Gasthäuser, eine Bankfiliale, einen Imbiss und ein Kaffeehaus. Das war’s.
Kosten in der Gemeinde
350.000 Euro lukriert die Gemeinde Angern an der March aus der Kommunalsteuer, mehr ist nicht drin. Die Infrastruktur ist mäßig interessant – schließlich liegt Angern an der March an keiner hochrangigen Straße. Mit allen Einnahmen zusammen ist das Budget heuer noch ausgeglichen. Aber der sprunghafte Anstieg des Strompreises wird kommendes Jahr mit sehr großer Sicherheit ein tiefes Loch ins Gemeindebudget reißen, denn Ende des Jahres läuft der Vertrag mit der EVN aus. Statt den bisherigen neun Cent je Kilowattstunde elektrische Energie, die im Pumpwerk, Rührwerk oder in der Presse der Kläranlage verbraucht werden, bezahlt die Gemeinde ab 1. Jänner 2023 exakt 34 Cent. Statt den 30.000 Euro, die bis jetzt bezahlt wurden, werden es von jetzt auf gleich 120.000 Euro sein.
Die Arbeitsplatzsituation ist
bei uns eine einzige Katastrophe.
René Zonschits, Vizebürgermeister Angern
Die Beiträge der Gemeinde für den Krankenanstalten-Sprengel sind in den vergangenen Jahren schon erheblich gestiegen. Von 700.000 auf eine Million Euro in nur fünf Jahren. Und auch die Personalkosten für die rund 40 Angestellten der Gemeinde zum Beispiel für die Kleinkinderbetreuung steigen. Vom Kindergartenpersonal berappt die Kommune alles.
Plötzlich sind Gemeinden pleite: Geld vom Land nötig
„Wir sind ein Paradebeispiel dafür, wie man von einer gesunden Gemeinde auf einen Schlag zu einer kranken wird“, sagt Zonschits. Und er schätzt, dass „zwei Drittel aller Gemeinden in Niederösterreich ein Problem bekommen werden wie wir. Vor allem aber jene Kommunen, die ihre Gemeindeeinrichtungen mit Heizöl oder fossilem Gas beheizen. Dort wird die Situation wirklich dramatisch“, prophezeit er.
So droht Angern an der March im kommenden Jahr voraussichtlich der „Abstieg“ zur Abgangsgemeinde. Abgangsgemeinden können ihren ordentlichen Haushalt, also ihre laufenden Einnahmen und Ausgaben laut Rechnungsabschluss nicht ausgleichen. Dann muss der Amtsleiter, wie er sagt, „Bedarfszuweisung beantragen“. Also beim Land um Geld bitten. 12,8 Prozent der Bundesmittel für die Länder stehen den Gemeinden zu. Als Abgangsgemeinden sind sie auf Geld angewiesen, das von Landesbeamt:innen und politischen Vertreter:innen verwaltet und verteilt wird.
ÖVP-Orte bekommen mehr Geld als SPÖ-Gemeinden
Wie schwierig es ist, auf das Land angewiesen zu sein, wissen alle Bürgermeister:innen aus Erzählungen. Oder aus eigener leidvoller Erfahrung. Rupert Dworak, langjähriger Präsident des NÖ Gemeindevertreterverbandes GVV: „Bedarfszuweisungen sind in Niederösterreich für ÖVP-Gemeinden pro Kopf wesentlich höher als für SPÖ-Gemeinden.“
„Menschen in Gemeinden mit ÖVP-Bürgermeister:innen sind der Landeshauptfrau und ihrem Finanzlandesrat 115,76 Euro pro Kopf wert. Für Investitionen in Gemeinden mit SPÖ-Bürgermeister:innen gibt es nur 67,21 Euro.“ Das sind 72 Prozent weniger. Von den 173 Millionen an niederösterreichischen Bedarfszuweisungen landeten 142 Millionen in schwarzen Gemeinden. Aber nur 31 Millionen in roten. Als Beispiel benennt Dworak Bedarfszuweisungen für den Straßen- und Brückenbau in Waidhofen/Ybbs. „In den Jahren 2006 bis 2010 hat Wolfgang Sobotka als Finanzlandesrat 3,152 Millionen Euro an die Statutarstadt ausgeschüttet, aus der er stammt. Von solchen Geldgeschenken können viele andere Städte und Gemeinden nur träumen – sie bekommen weniger oder gar nichts.“
Ein anderes schillerndes Beispiel dafür ist Wiener Neustadt: Nachdem eine Vier-Parteien-Koalition die stimmenstärkste SPÖ als Regierungspartei abgelöst hatte, hat das Land das Füllhorn über der Stadt ausgeschüttet. Der nunmehrige ÖVP-Bürgermeister Schneeberger, der nebenbei Klubobmann der ÖVP im NÖ Landtag ist, hat schließlich exzellente Kontakte zur Landeshauptfrau und dem Finanzlandesrat. „Hier fehlt die Transparenz“, sagt Dworak. „Landeshauptleute verwenden Bedarfszuweisungen in vielen Fällen als Spielgeld“, ergänzt der Kommunalberater Walter Heinisch, „denn es sind Ermächtigungsausgaben. Bist du brav, bekommst du Geld, bist du schlimm, bekommst du viel weniger oder nichts – mitunter sogar unabhängig von der Couleur.“
Stotternder Wirtschaftsmotor: Gemeinden vor der Pleite
Zurück nach Angern an der March. Schon vor 15 Jahren war Angern einmal Abgangsgemeinde. Da musste man eisern sparen. „Das wird jetzt wieder so sein. Wir müssen viele Projekte einstellen“, sagt der dynamische Zonschits: „Den Umbau der Volkschule werden wir mit den jetzigen Baupreisen nur sehr schwer stemmen.“ Auch bei Straßenarbeiten werde der rote Stift angesetzt. Ändere sich die Situation nicht, müsse er geplante Vorhaben kürzen oder einstellen.
Wenn das viele Gemeinden gleichzeitig machen, geht die Auftragslage zum Beispiel für ländliche Baufirmen schlagartig zurück. Das Stottern der Kommunen kann der lokalen Wirtschaft erheblich zusetzen. Die gedämpfte Auftragslage wird zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Eine gefährliche Spirale nach unten wird in Gang gesetzt.
Unterm Strich zieht der Amtsleiter und Vizebürgermeister die traurige Bilanz, dass am Ende alles auf die Gemeinde abgewälzt wird: „Ob Impfen, ob Testen in der Teststraße oder der Strompreisrabatt. Weil sich viele ältere Menschen nicht auskennen oder kein Internet haben, landet am Ende alles bei uns. Wir rennen bis zum Anschlag – aber wir können bald nicht mehr.“
Der Weg für Gemeinden aus der Pleite
Ein Ausweg aus dem finanziellen Dilemma der Kommunen besteht darin, Gebühren zu erhöhen, also etwa die Müllgebühren. Aas Angern per 1. Jänner 2022 zum ersten Mal seit zehn Jahren gemacht hat. Oder die Friedhofsgebühren, die Preise für Wasser und Abwasser, die Hundesteuer oder die Gebühren für die Kinderbetreuung am Nachmittag und so weiter. Und natürlich könnte die Gemeinde in Abstimmung mit dem Land auch eine Radarfalle aufstellen. Doch das kommt für Zonschits nicht infrage, wie er gegenüber Arbeit&Wirtschaft erklärt. „Da würden wir nur unsere eigenen Leute erwischen.“ Ihm wird also nur der Gang zum Land bleiben, um dort um Bedarfszuweisung anzusuchen.
Das machen Wolfram Erasim, Bürgermeister in Rabensburg an der Nordbahn, und sein Kollege Michael Streif aus Schwarzau am Gebirge längst. Beides sind sogenannte Sanierungsgemeinden, also zwei von aktuell zwölf Kommunen in Niederösterreich, bei denen die Ausgaben erheblich höher sind als die Einnahmen und die derzeit keine Chance sehen, aus eigener Kraft wieder ausgeglichen bilanzieren zu können. Beide Bürgermeister sind mittlerweile geübt darin, gute Argumente zu haben, um Gelder vom Land zu bekommen, um ihre Abgänge zu bedecken.
Zehn Geburten, dreißig Todesfälle
Erasim kann Rabensburg nicht aus eigener Kraft entschulden, auch wenn die Gemeinde sogar das Erdgeschoß des Rathauses an einen Kaufmann mit seinem Kaufmannsladen vermietet hat und an eine Friseurin, die jedoch nun aufhört, weil sie in Pension geht. Es gibt im Ort noch eine liechtensteinische Privatstiftung und fünf große Landwirtschaftsbetriebe. Sonst aber kaum Arbeit. „Wien löst das Arbeitsmarktproblem Niederösterreichs und vor allem das von Rabensburg“, sagt Erasim. „250 der 1.140 Einwohner:innen von Rabensburg fahren ab fünf Uhr in der Früh mit der Nordbahn zum Arbeiten nach Wien und am Abend wieder heim.“ Die Pendler:innengemeinde wächst vor allem durch Zuzug.
„Bei jährlich zehn Geburten und 30 Todesfällen würde unsere Bevölkerung in zehn Jahren um 200 Menschen schrumpfen.“ Und auch sonst hat die Kommune wenig wirtschaftlichen Bewegungsspielraum. „Aufgrund des Naturschutzes und des Umstands, dass in der Nähe Kaiseradler brüten, dürfen wir anders als andere Gemeinden keine Windräder errichten.“ Damit entfällt auch diese Möglichkeit, Einnahmen zu lukrieren. „Und gegen einen sanften Vogeltourismus in den March-Auen spricht, dass die Zufahrten in die Au der liechtensteinischen Privatstiftung gehören.“
„Unsere Stadt einen“
Schauplatzwechsel. St. Valentin – nahe an der Grenze zwischen Nieder- und Oberösterreich. Als Kerstin Suchan-Mayr 2010 hier Bürgermeisterin wurde, fand sie einen Schuldenberg von 27,4 Millionen Euro vor. Sie sparte eisern, und bis Ende 2021 konnte sie davon zwölf Millionen Euro abtragen. In dem kommunalen Bonitätsranking, das das Kommunalmagazin „Publik“ herausgibt, hat sich die Stadtgemeinde 2021 den guten 55. Platz erarbeitet und sich damit in nur einem Jahr um 52 Plätze verbessert. Im Vergleich ähnlich großer Kommunen, also mit 5.000 bis 10.000 Einwohner:innen, belegt St. Valentin sogar Platz fünf.
Diese Verbesserungen wurden unter der Führung der Bürgermeisterin weitgehend aus eigener Kraft geschafft. Das hat einen guten Grund. In St. Valentin sprudelt die Kommunalsteuer. Tausende Arbeitsplätze sorgen für jährliche Einnahmen von rund sieben Millionen Euro. Das ist ein wichtiger Bestandteil im Gesamtbudget von rund 26 Millionen Euro. Der Spritzgusshersteller Engel, die Traktorenschmiede Case New Holland, ehemals Steyr Traktoren, und Magna Engineering sind die wichtigsten Leitbetriebe neben vielen Klein- und Mittelbetrieben. Und dennoch hat die Kommune ein Problem. „Weil die Westbahnstrecke die Stadt in der Mitte teilt, haben wird alles doppelt“, sagt die Bürgermeisterin und Landtagsabgeordnete, „zwei Turn- und zwei Fußballvereine, zwei Musikkapellen usw.“
Die Trennung einer Ortschaft
Diese Trennung sitzt heute noch immer in vielen der rund 9.300 Köpfe mit Hauptwohnsitz in St. Valentin. Da die Arbeiter:innen, dort die Konservativen – so ist das entstanden. Um die Bevölkerung zu einen, ist die Bürgermeisterin dabei, ein lang gehegtes Projekt umzusetzen: das Valentinum, ein Zentrum für alle Einwohner:innen der Stadt, also „eine zeitgemäße Halle für kulturelle Veranstaltungen wie Kabaretts, Konzerte und Theater sowie für gesellschaftliche Ereignisse – etwa Bälle und größere Feiern“, schrieben die „Niederösterreichischen Nachrichten“. Und ebenfalls im Bau: eine Musikschule.
Der Kauf des 5.800 Quadratmeter großen sogenannten Stöckler-Areals für das Valentinum wurde 2016 einstimmig im Gemeinderat beschlossen. „Wir investieren damit in die Gemeinschaft“, sagt Suchan-Mayr. Und: „Der gesellschaftliche Nutzen ist groß, lässt sich zwar nicht in Zahlen messen, dafür aber in Zufriedenheit. Und die Zufriedenheit steigt“, attestiert sie. Das Verbindende ist der Stadt rund 12,6 Millionen Euro wert. So viel wurde für das Valentinum veranschlagt. 3,45 Millionen Euro davon kommen vom Land. Der Baubeginn und die Gleichfeier waren während der Pandemie. Am 11. Februar 2023 wird die Veranstaltungshalle feierlich eröffnet, der 14. Februar 2023, der nächste Valentinstag, wird dann schon im Valentinum gefeiert. Bis die Stadt so weit ist, wird es Jahrzehnte gedauert und viele Budgets und viele Anläufe gebraucht haben.
Kindergartenoffensive
Doch ein ganz beträchtlicher Teil des Budgets wird durch Fixkosten aufgefressen, also durch Personalkosten oder gerade jetzt durch die steigenden Energiepreise. „Die freie Finanzspitze wird auch bei uns immer kleiner“, so Suchan-Mayr, „und wenn Gemeinden Probleme haben, werden sie ihre Investitionen hinterfragen und Prioritäten setzen“ – zum Beispiel ob sie sich ein Freibad leisten oder den Familien eine adäquate Kinderbetreuung zukommen lassen können.
„Gerade die Kindergärten sind mir ein Herzensanliegen“, sagt die Bürgermeisterin. St. Valentin geht in den Ferien mit gutem Beispiel voran und bietet mit dem sogenannten „Takatukaland“ eine kostenlose Kinderbetreuung während aller Schulferien an. „Die Teilnahme ist flexibel und ohne Voranmeldung möglich“, so die Bürgermeisterin. „Ich stehe hinter der Kindergartenoffensive unter dem Motto ganztägig, ganzjährig und gratis für das Land, damit Kinder nicht nur in Wien, sondern auch bei uns in Niederösterreich ab dem zweiten Lebensjahr den ganzen Tag in den Kindergarten gehen dürfen. Das ist zwar personell und auch finanziell eine riesige Herausforderung – aber machbar!“