Eisern sparen
Sie überlegt: Ihre Tochter Mina braucht dringend neue Schuhe, und vielleicht kann ihr Sohn Christian doch noch auf die Schullandwoche mitfahren. Wenn sie das zusätzliche Geld die ersten zwei Monate eisern spart, kann sich das ausgehen. Außerdem ist das Bügeleisen seit ein paar Monaten kaputt und sie kann sich nicht ewig auf ihre nette Nachbarin verlassen, wenn sie ihre Blusen für die Woche bügeln muss … 200 Euro! Der Grund für ihre Freude: Die Gewerkschaft hat es geschafft, den Mindestlohn von 1.500 Euro auch noch für die letzten Kollektivverträge durchzusetzen. Doch wie so viele andere ArbeitnehmerInnen packt auch sie die Sorge: Wird sie ihr Chef deshalb am Ende kündigen? Was, wenn er sich die gestiegenen Kosten nicht leisten kann oder will? Immerhin ist sie erst ein knappes Jahr bei ihm. Doch bei genauerer Überlegung kommt sie zu dem Schluss: Wie soll das denn gehen, ohne Ordinationshilfe beim Arzt? Soll er die Termine vielleicht selbst ausmachen und während des Bohrens hinauslaufen, wenn das Telefon klingelt?
Zwar handelt es sich hier um ein fiktives Beispiel, denn die Gewerkschaften haben das Ziel noch nicht erreicht, 1.500 Euro Bruttolohn für alle durchzusetzen. Allerdings setzen sie alles daran, dieses so rasch wie möglich zu erreichen und darüber hinaus zu kommen. Sabines Beispiel macht deutlich: Viele Beschäftigungsverhältnisse können gar nicht abgeschafft oder ausgelagert werden. Inzwischen sehen auch die meisten ÖkonomInnen ein, dass ein Mindestlohn nicht automatisch den massenhaften Abbau von Jobs zur Folge hat. Allerdings ist ein gesetzlicher Mindestlohn in Österreich nicht in Planung.
Schnappatmung
Noch vor nicht allzu langer Zeit war das anders. Da lösten Debatten um Mindestlöhne bei vielen VolkswirtschafterInnen noch Schnappatmung aus. Inzwischen hat Entspannung eingesetzt. Im Vorfeld wird zwar immer noch gerne der Weltuntergang ausgerufen, aber sobald die ersten Untersuchungen über die tatsächlichen Auswirkungen veröffentlicht werden, melden sich die ProphetInnen kaum mehr zu Wort. Denn auch ÖkonomInnen lernen. Vor allem wenn es die Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit zu beobachten, und keine Kristallkugelökonomie betrieben werden muss: Je mehr empirische Forschung es gibt, umso eher setzt sich die Erkenntnis durch, dass es kaum Grund zur Hysterie gibt, wenn die untersten Löhne mit Augenmaß angehoben werden. In den USA ist das bereits Mehrheitsmeinung.
Deutschland hat diesen Lernprozess gerade durchgestanden. Den panischen Prognosen vor der Einführung eines Mindestlohns 2015 steht heute eine robuste Wirtschaftsentwicklung gegenüber. Zwar gibt es tatsächlich weniger Minijobs (geringfügig Beschäftigte), aber dafür mehr Beschäftigungsverhältnisse, die sozialversicherungspflichtig sind. Jobverluste müssen mit der Lupe gesucht werden.