Nach Pflegeskandal in Salzburg: Kritische Infrastruktur schützen
Der Pflegeskandal in Salzburg ist deswegen so dramatisch, weil die Landesregierung längst von den Zuständen wusste, wirft Achitz der Politik vor. Doch die Kontrollen im Jahr 2021 und 2022 hätten zu keinen Konsequenzen geführt. „Die haben darauf geschaut, ob eine Dokumentation vorhanden ist, haben geschaut, ob die notwendigen Dinge drinnen stehen, haben aber keine Schlüsse daraus gezogen. Dass zum Beispiel keine Schmerzbehandlung bei der Wundbehandlung drinnen steht“, erklärt Achitz im Ö1-Morgenjournal.
Das sei nicht einmal verwunderlich. Denn die Wundmanagerin des Seniorenheims sei bereits seit sechs Monaten wegen Burnout im Krankenstand. Probleme, die wegen der Pflege- und Betreuungskrise fast überall Alltag sind. All das habe die Regierung gewusst, darauf aber nicht reagiert. Heinrich Schellhorn (Grüne), Salzburger Soziallandesrat, wehrt sich gegen die Vorwürfe. Wegen diverser Beschwerden habe es Kontrollen gegeben. Die Missstände seien dann mit dem Betreiber besprochen worden. Der habe zugesichert, die Probleme zu lösen. Das tat er nicht. So kam es zum Pflegeskandal in Salzburg.
Private Investoren in kritischer Infrastruktur
Der Pflegeskandal in Salzburg wirft die Frage auf: Wie gut schützt Österreich seine kritische Infrastruktur? Keine Ahnung, denn eine Liste, auf der alle Einrichtungen stehen, die zur kritischen Infrastruktur gehören, gibt es nicht. Was dazugehört und was nicht, hängt vom Kontext ab. Wenn von Hackerangriffen auf kritische Infrastruktur gesprochen wird, ist meist die Energieversorgung gemeint. In kriegerischen Auseinandersetzungen sind es Verkehrswege und Fabriken. Leonhard Plank, Senior Scientist an der TU Wien, gibt im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft folgenden Ansatz vor: „Kritische Infrastruktur sind Wirtschaftsbereiche, die für das Funktionieren einer Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Deren Ausfall würde die Funktionsweise und Stabilität unserer Gesellschaften gefährden.“ Eine Erklärung, die auch in Friedenszeiten greift.
Bald erscheint Planks Studie, in der er sich mit shareholderorientierten Investitionen in kritische und soziale Infrastruktur auseinandersetzt. Er analysiert darin die Folgen gewinnorientierter Beteiligungen in den Bereichen Wohnen, Pflege und Gesundheit. „Es ist verantwortungslos, kritische Infrastruktur privatwirtschaftlich zu optimieren. Mittel abzuziehen bedeutet, die Funktionsweise zu gefährden“, so Leonhard Plank, Senior Scientist an der TU Wien. Österreich ist in dieser Beziehung ein weißer Fleck auf der Investor:innenlandkarte. Hierzulande ist soziale Daseinsvorsorge größtenteils in öffentlicher Hand. Doch gerade diese geringe private Quote ist der größte Anreiz für Investor:innen. Denn sie sehen hier Wachstumspotenzial – aus ihrer Perspektive nicht zu Unrecht.
Regierung spart, Investoren springen ein
Der enorme Bedarf an privaten Investitionen ist immer noch eine Nachwirkung der Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009. Damals reduzierten die Nationalstaaten – auch Österreich – ihre Kosten in diesen Bereichen und schufen so gleichzeitig Geschäftsmodelle für Spekulant:innen. Die Regierungen wollten Kosten sparen, und Gewinne sind hier für den Staat nicht zu holen – also sollten Privatinvestor:innen ran. Kritische Infrastruktur wurde zum Geschäftsmodell. „In den letzten Jahrzehnten haben wir uns an die Denkweise gewöhnt, dass private Unternehmen das besser können“, kommentiert Plank das Mantra der neoliberalen Schule. „Doch“, so Plank weiter, „in der Krise hat sich gezeigt, dass das nicht so einfach ist – und dass es verantwortungslos ist, kritische Infrastruktur privatwirtschaftlich zu optimieren. Mittel abzuziehen bedeutet, die Funktionsweise zu gefährden.“
Obdachlosigkeit, Krankheit und Tod sind keine Alternativen für Wohnen, Pflege und Gesundheit. Entsprechend müssen letztere Bereiche auch nicht profitabel sein, findet er. „Diese zentralen Bereiche müssen primär Stabilität und Versorgungssicherheit garantieren, sonst entstehen massive volkswirtschaftliche Kosten. Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob sie betriebswirtschaftliche Gewinne abliefern, nachrangig.“
Auch das Vorurteil, der Staat mache absichtlich Verluste, stimme so nicht. Weltweit würden Regierungen gerne mit ihren Einrichtungen verdienen. Doch im Vergleich zu Privatinvestor:innen haben sie einen anderen Fokus. Die Bürger:innen und das Halten eines hohen Niveaus in der Versorgung gehen für sie vor. Plank: „Es gibt die ewige Debatte, ob der Privatsektor nicht innovativer ist. Aber die soziale Infrastruktur – besonders der Pflege- und Gesundheitsbereich – ist sehr personalintensiv. Das, was Investor:innen herausholen, kommt oft von den Beschäftigten.“
SeneCura: Pflegeskandal in Salzburg mit Ansage
In seiner Studie geht Plank unter anderem auf das Beispiel des Pflegekonzerns ORPEA ein. Durch den Einstieg des kanadischen Pensionsfonds CPPI finanziell sehr gut ausgestattet, fuhr der heute in 23 Ländern vertretene Konzern ab dem Jahr 2013 eine aggressive Expansionspolitik und übernahm 2015 unter anderem die österreichische SeneCura Gruppe. Heute gehört jedes dritte private Pflegebett in Österreich SeneCura. Deren Muttergesellschaft ORPEA erzielte im Jahr 2021 einen Umsatz von 4,3 Mrd. Euro, was einem Zuwachs von 9,6 Prozent gegenüber 2020 entspricht. Das EBITA lag sogar bei 1,0 Mrd. Euro, ein Zuwachs im Vergleich zu 2020 von 12,3 Prozent.
Was nach einem Siegeszug der liberalen Marktwirtschaft im Pflegebereich aussah, änderte sich, als zu Beginn dieses Jahres das Aufdeckerbuch „Die Totengräber“ des Journalisten Victor Castanet öffentlich machte, woher die Gewinne der ORPEA kamen. Die Patient:innen bekamen zu wenig zu essen, es gab nicht ausreichend Personal, Gewerkschaften wurden bekämpft, die Hygiene war mangelhaft, und zur Steueroptimierung hat der Konzern in Luxemburg insgesamt fünfzig verschiedene Gesellschaften gemeldet.
Der steigende Bedarf in der #Pflege und #Gesundheitsversorgung macht diese kritische Infrastruktur zum attraktiven Geschäftsgegenstand. Doch die Geschäftsmodelle profitorientierter Investoren bergen Risiken für die Beschäftigten und die PatientInnen: https://t.co/o91cnScx4h pic.twitter.com/tUDlxOyPws
— A&W Blog (@AundW) October 20, 2021
Immer mehr Investoren in Bereichen der kritischen Infrastruktur
Neben Privatunternehmen wie ORPEA im Pflegebereich kämpfen etwa Helios (Gesundheit) und Vonovia (Wohnen) bereits um Marktanteile – mit den bekannten Problemen. „Gewinne werden privatisiert und Kosten sozialisiert und auf die Allgemeinheit abgewälzt“, erklärt Plank. Dazu kommt: Oft steigen Investor:innen ein, schöpfen die Gewinne sofort ab, verschieben die Investitionen und Kosten aber in die Zukunft. Lassen sie sich nicht mehr vermeiden, steigen sie wieder aus, und dann muss die Allgemeinheit diese Kosten tragen.
Österreich hat Gesetze, die grundsätzlich die kritische Infrastruktur vor dem heuschreckenartigen Einfall von Investor:innen schützen – beispielsweise die Regelungen zur Wohnungsgemeinnützigkeit. Dazu kommen bestimmte Offenlegungspflichten, die ein Mindestmaß an Transparenz schaffen. Doch für eine langfristige Sicherstellung brauche es einen Paradigmenwechsel auf EU-Ebene, glaubt Plank. Die Freiheit des EU-Binnenmarktes ist hier – zu Recht – ein sehr hohes Gut. Doch bestünde die Möglichkeit, die kritische Infrastruktur rechtlich aufzuwerten, ihr also Vorrang vor den Interessen des Marktes zu geben.
Die EU könnte die kritische Infrastruktur eigenständig regeln sowie ökologische und soziale Mindeststandards setzen. Sie könnte beispielsweise höhere Löhne oder eine langfristige Vermögensbindung beschließen, strenge Transparenzregeln schaffen und Steuerschlupflöcher schließen. Denn leistbarer Wohnraum, stabile Gesundheitsversorgung und eine qualitätsvolle Pflege sind Eckpfeiler einer Gesellschaft – und keine Renditeobjekte!