Neoliberaler Märchenwald rund ums Thema Sozialstaat

Mythos oder Wirklichkeit? (c) Adobe/raquel
Mythos oder Wirklichkeit? Sind alternative Fakten, die oftmals die Diskussion um den Sozialstaat dominieren, wahr? Oder stellen sie sich als Nebelgranaten heraus? A&W fragt nach.
Seit es ihn gibt, läuft gegen den Sozialstaat eine Schmierenkampagne. Die Diskussion wird bestimmt von alternativen Fakten, die einer genauen Betrachtung nicht standhalten. Doch ein bisschen was bleibt immer haften. Und so sind Sozialstaatsmythen entstanden. Markus Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer Wien, hat sie für Arbeit&Wirtschaft analysiert.

Sozialstaat-Mythos 1:
DIE ÜBERALTERUNG TREIBT DEN WOHLFAHRTSSTAAT IN DEN RUIN

Der Anstieg der Zahl der über 80-Jährigen von 5 % der Bevölkerung auf 11 % und jener über 65 von 20 % auf 30 % bedeutet höhere Pflege-, Gesundheits- und Pensionsausgaben und den Anstieg altersabhängiger Ausgaben von 26 % auf 30 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2070. Höhere Sozialausgaben von 4 % des BIP müssen erst einmal finanziert wer-den. Ist damit der Sozialstaat pleite, wie die Neoliberalen hoffen? Nein. Denn in den vergangenen 50 Jahren war die Herausforderung größer: 1970 betrugen die Sozialausgaben 20 % des BIP. Dann wurden die Sozialleistungen für Alte, Familien, Kranke, Arbeitslose und Pflegebedürftige verbessert, die Ausgaben stiegen auf 29 % des BIP im Jahr 2019. Doch von einer Pleite keine Spur. Die Finanzierung erfolgte über einen Anstieg von Steuern und Beiträgen von 34 % 1970 auf 43 % des BIP. Bessere Sozialleistungen werden solidarisch durch höhere Abgaben finanziert.

Sozialstaat-Mythos 2:
DIE ABGABENQUOTE IST ZU HOCH

Hohe Abgaben ruinieren Wohlstand und Standort! Auf dieses neoliberale Mantra fallen viele hinein. Bessere soziale Absicherung bei steigenden Abgaben bedeutet aber per Sal-do steigenden Wohlstand. Skandinavische Staaten oder Österreich haben hohe Abgaben und hohe Produktion pro Kopf. Doch entscheidend ist, um welche Steuern es geht. Als der Sozialstaat nach 1945 aufgebaut wurde, gab es kein Kapital oder Vermögen. Die Ausgaben für Pensionen, Pflege und Gesundheit konnten nur aus den laufenden Arbeitseinkommen finanziert werden. Doch heute übertrifft der Bestand an Vermögender privaten Haushalte die laufenden Arbeitseinkommen um das Fünf- bis Sechsfache. Der Ausbau des Sozialstaates wird deshalb mit Steuern auf Vermögensbestand, -übertragung und -einkommen finanziert werden statt mit Abgaben auf Leistungseinkommen aus Arbeit.

Sozialstaat-Mythos 3:
UNS GEHEN DIE ARBEITSKRÄFTE AUS

Der Sozialstaat ist nicht mehr leistbar, weil uns die Arbeitskräfte fehlen. Fehlen sie wirklich? Hätte Österreich die Frauenerwerbsquote der Niederlande und das Stundenausmaß der Teilzeitbeschäftigten Belgiens, dann hätten zusätzlich 300.000 Frauen einen Job und eine eigenständige soziale Absicherung. Die Voraussetzung: gerechte Verteilung unbezahlter Arbeit und Ganztagsöffnung der Kindergärten und Schulen. Bringen bessere Gesundheitsvorsorge und altersgerechte Arbeitsplätze so viele Ältere wie in Schweden in Jobs, dann sind das zusätzlich 100.000 Leute. Hunderttausende haben nur prekäre Arbeit in miesen Betrieben – ein enormes Potenzial für gute Betriebe, die ordentliche Löhne zahlen. Arbeitskräfteknappheit bringt bessere Chancen für alle, die es derzeit nicht so leicht haben. Bekommen sie gute Jobs, dann ist die Finanzierung des Sozialstaates gesichert.

Sozialstaat-Mythos 4:
DER SOZIALSTAAT VERHINDERT ARMUT

Gesundheitsversorgung, Kurzarbeit, Arbeitslosengeld: Der Sozialstaat erlebt in der Doppelkrise von COVID und Teuerung eine Stern-stunde. Doch er ist nicht armutsfest, denn Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Mindestpension und Unterhaltsvorschuss liegen um zwei- bis vierhundert Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle. In der Teuerungswelle droht manifeste Armut. Höhere Untergrenzen bei Sozialleistungen können Armut lindern. Mehr ist nötig, um auch deren Ursachen zu bekämpfen: sozialer Wohnbau mit leistbarem Wohn-raum für alle; Kindergärten und Schulen mit Ganztagsöffnung und besonderem Augen-merk auf benachteiligte Kinder; Sozialarbeit mit Hilfe für die Schwächsten; gute Jobs mit gutem Einkommen. Untergrenzen gegen Armut sollen mit Obergrenzen für Überreichtum kombiniert werden, um Demokratie und sozialen Zusammenhalt zu sichern.

Mythos oder Wirklichkeit - Thema Sozialstaat
Viele Mythen ranken sich um den Sozialstaat und dessen Finanzierbarkeit.

Es lohnt sich genauer hinzusehen – denn oftmals erweisen sich besonders laute und aufgeregte Sager einfach als nicht richtig. Der Sozialstaat mit all seinen Vorteilen für jede:n einzelne:n Bürger:in läuft so allerdings Gefahr, langsam untergraben zu werden – im Bewusstsein der Menschen – und das schadet letztlich uns allen.

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