Bedeutung des Sozialstaats in der Krise
Genau hier setzt Ertl aber gleich kritisch nach. „Eine Krisensituation zeigt immer auch Schwächen.“ Und die große Schwäche des österreichischen Sozialstaats sei dessen „mangelnde Armutsfestigkeit“. Sozialleistungen sollten nicht nur ein Abrutschen in Notlagen verhindern, sondern auch ein „existenzsicherndes Niveau“ für alle Menschen garantieren. „Für einen armutsfesten Sozialstaat brauchen wir aber ein progressives Steuersystem.“ Die Bundesregierung müsste Weichenstellungen aus vergangenen Jahrzehnten rückgängig machen. An vorderster Stelle stehen hier für Ertl die 1994 und 2008 abgeschafften Vermögen- und Erbschaftsteuern.
Sehr grundsätzlich geht die an der Wirtschaftsuni Wien tätige Finanz- und Wirtschaftswissenschaftlerin Lea Steininger an die Sache heran. „Ich bin keine Vertreterin von ‚doom and gloom‘“, sagt sie. Dennoch gebe es „Sachzwänge“, darunter die Klimakrise. „Wer die Natur nicht ausbeuten will, muss lernen, die Menschen nicht auszubeuten. Denn Menschen sind Teil der Natur.“ Was das für den Sozialstaat bedeutet? „Man braucht Maßnahmen, die gratis sind und ein würdevolles Leben ermöglichen, beispielsweise im Bereich der Gesundheit oder der sozialstaatlichen Infrastruktur. Dazu könnte eine Beschäftigungsgarantie für alle Menschen, die arbeiten wollen, gehören.“
An den Frauen bleibt es hängen
Denkt ÖGB-Frauensprecherin Karin Zimmermann an das Thema „Sozialstaat“, kommen ihr zunächst die Pandemie-Belastungen in den Sinn. „An den Frauen ist sehr viel hängen geblieben. Die Kinder waren zu Hause. Es gab Homeschooling. Anfangs war diese Betreuungsarbeit noch halbwegs zwischen den Geschlechtern aufgeteilt. Später haben dann alles die Frauen gemacht.“ Hier sei es die Aufgabe eines Sozialstaates, Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen. „Wir fordern einen Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem ersten Geburtstag des Kindes“, so Zimmermann. Es brauche „einen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung sowie Kinderbildungsplätze, die mit Vollzeit vereinbar sind. Dafür muss die öffentliche Hand Geld in die Hand nehmen.“ Weil Frauen für die Kinderbetreuung eher daheimbleiben als Männer und deshalb auch auf Vollzeitjobs verzichten, steigen sie bei den Pensionen um 41 Prozent schlechter aus als Männer.
Deshalb fordert Zimmermann eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten bis zum achten statt wie bisher bis zum vierten Lebensjahr. Gleichzeitig brauche es eine höhere Entlohnung in den Frauenbranchen, etwa in der Elementarpädagogik. „Hier gibt es großen Unmut und wachsenden Personalmangel, nachdem die Kolleg:innen die Kindergärten während der COVID-Pandemie unter großem Risiko fast durchgängig offen gehalten haben. Es muss sich dringend etwas ändern“, fordert Zimmermann, „diese vor allem von Frauen geleistete Arbeit muss höher bewertet werden.“
Eine Lebensfrage
Bei näherer Betrachtung all dieser Beispiele zeigt sich, dass beim Thema Sozialstaat Dinge verhandelt werden, die weit über punktuelle Maßnahmen hinausgehen. Tatsächlich handelt es sich bei der Frage nach der Bedeutung des Sozialstaats um eine Diskussion darüber, wie das gesellschaftliche Leben organisiert werden soll, um möglichst vielen Menschen dauerhaft ein möglichst gutes Leben zu ermöglichen. Entsprechend vehement weist Norman Wagner, Sozialpolitik-Experte bei der Arbeiterkammer Wien, Aussagen zurück, wonach die Kosten für den Sozialstaat den Wirtschaftsstandort gefährden würden. „Es ist doch so, dass arbeitende Menschen über ihre Steuern überdurchschnittlich viel zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Wir brauchen für die Sicherung des Sozialstaats aber auch eine viel größere Beteiligung von Kapital und Vermögen.“
Wagner warnt vor Diskussionen, die darauf abzielen, Leistungen des Sozialstaats zurückzufahren. „Wir brauchen ganz im Gegenteil einen Ausbau des Sozialstaats, etwa wenn wir die Pflege nicht mehr auf die Frauen im Privatbereich abwälzen, sondern sie staatlich organisieren wollen. Wir brauchen Investitionen in soziale Infrastrukturen, von der Bildung bis zur Altenpflege. Und die Menschen brauchen in ihrem Leben Planungssicherheit, wozu auch möglichst sichere und gut entlohnte Beschäftigungsverhältnisse gehören.“
#Sozialstaat Österreich: Wir widmen dem Thema nicht nur unsere aktuelle Ausgabe, auch online legen wir den Schwerpunkt darauf. Geschichte des Sozialstaats in Österreich, seine Funktion sowie neueste Entwicklungen: Ab sofort auf unserer #Website unter https://t.co/IEgg6bA5Pv.
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) July 20, 2022
Große Bedeutung des Sozialstaats bei den Menschen
Tatsächlich erfreut sich der Sozialstaatsgedanke in Österreich weiterhin hoher Beliebtheitswerte. Laut dem AK COVID-Survey waren im Juni 2020 62 Prozent der Menschen in Österreich der Meinung, dass die Rolle des Sozialstaats im Zuge der COVID-Krise wichtiger geworden sei. Im Jänner 2021 stimmten bereits 65 Prozent dieser Aussage zu, wobei 40 Prozent der Befragten dem Sozialstaat eine „viel wichtigere“ Rolle einräumten. Dafür, dass er uns das ganze Leben erhalten bleibt, ist nun zu kämpfen.