Für viele Bürger:innen sind nun – nach Corona und der damit verbundenen Arbeitslosigkeit – die steigenden Preise auf breiter Front zum großen Problem geworden. Denn die Teuerung hat nicht nur jene ohnehin schon von der Armutsgefahr bedrohten Menschen erreicht, sondern auch den Mittelstand. Angesichts der Teuerung steht das Sozialsystem vor der nächsten Prüfung. Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO), erwartet laut einer Presseaussendung für das ganze Jahr eine Teuerung von knapp acht Prozent. Also in etwa so viel wie im Monat Juni. Stimmt diese Vorhersage, dann steigt die Teuerung in Österreich noch weiter. Wie sehr, hängt von der weiteren Entwicklung des Krieges in der Ukraine ab. Und auch davon, ob weiterhin Gas und Öl nach Europa fließen. Felbermayr jedenfalls rechnet damit, dass die Teuerung weitergegeben wird. Eine Entspannung sieht er frühestens ab dem ersten Quartal 2023.
Endlich Maßnahmen gegen die Inflation umsetzen
Gerade deshalb „müssen wir die Teuerung jetzt bekämpfen. Denn sie schlägt zu und macht die Menschen ärmer“, sagt Oliver Picek, Ökonom beim Momentum Institut. Der Sozialstaat sollte die schlimmsten Verwerfungen korrigieren. Insgesamt braucht Österreich eine gesamtwirtschaftliche Stabilisierung, um eine noch tiefere Krise zu verhindern. Schon vor der Teuerungswelle, die ab etwa Mitte 2021 Fahrt aufnahm, waren in Österreich viele Sozialleistungen im internationalen Vergleich bereits nicht armutsfest. Und das sind sie jetzt noch weniger. Bei manchen Sozialleistungen bezahlt Österreich im internationalen Vergleich wenig. Beispielsweise beim Arbeitslosengeld und der Notstandshilfe. Picek: „Besonders von Armut bedroht sind Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose.“
Der Druck auf eine schnelle Bekämpfung erhöht sich. Bereits Mitte März hatte der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) seine Petition „Preise runter“ gestartet. Bis Mitte Juli unterzeichneten 63.475 Personen. Anfang Juni nahmen mehr als 3.200 Betriebsrät:innen an der Preise-runter-Konferenz teil. Kurz danach legte die Regierung Mitte Juni ein Entlastungspaket in der Größenordnung von 28 Milliarden Euro gegen die Teuerung vor. Es umfasst die Abschaffung der kalten Progression, 500 Euro Klimabonus, 300 Euro für Bedürftige, 180 Euro Einmalzahlung pro Kind zur Familienbeihilfe und weitere steuerliche Entlastungen. Die Regierung hat auch die Wertsicherung von Sozialleistungen angekündigt. So sollen ab Anfang 2023 Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld, Krankengeld, Reha- und Umschulungsgeld, Studienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag wertgesichert werden.
Rascher Verpuffungseffekt
Kritischere Ökonom:innen und auch Gewerkschafter:innen loben zwar das Inflationsdämpfungspaket der Politik, streichen aber vor allem die großen Nachteile hervor. Es ist ein Maßnahmenpaket, „bei dem die Hilfe zu rasch verpufft“, warnt Dominik Bernhofer, Steuerexperte der AK Wien, in der Tageszeitung „Der Standard“. Und Ewald Sacher, Präsident der Volkshilfe Österreich, übte in einer Aussendung harsche Kritik an dem Paket gegen die Teuerung. „Das Gesamtvolumen ist durchaus beachtlich. Für die Volkshilfe sind es aber die akut armutsbetroffenen Menschen und Kinder, die eine nachhaltige Unterstützung brauchen. Und hier sehen wir viel Schatten beim Antiteuerungspaket, akute Armut wird damit nicht bekämpft.“ ÖGB-Chef Wolfgang Katzian urteilte in einer Aussendung: „Ein echtes Entlastungspaket braucht mehr!“ Denn viele „Sozialleistungen bleiben unter der Armutsgrenze“. Einmalmaßnahmen wie der Klimabonus und andere Geld-zurück-Aktionen wirken eben nur einmal.
Die Ursachen für die Teuerung würden damit nicht bekämpft, sagen Oliver Picek. Und auch Elisabeth Springler, Professorin für Makroökonomie an der Fachhochschule des bfi Wien. „Die Regierung setzt es sich nicht zum Ziel, die Teuerung zu bekämpfen, sondern sie will nur die negativen Effekte der Teuerung bekämpfen“, sagt Springler und stellt damit die Treffsicherheit infrage. „Viele Maßnahmen der Regierung kommen nicht nur bei den Bezieher:innen niedriger Einkommen an, sondern kommen allen zugute. Es kommt daher zu einer stärkeren Ungleichverteilung. Und damit auch zu einer stärkeren Umverteilung nach oben.“
Unruhe in der Bevölkerung
An den Stammtischen ist die Teuerung mittlerweile ein zentrales Thema. Und die Unruhe in der Bevölkerung wird in den nächsten Monaten bei weiter steigender Inflation zunehmen. Sobald die Einmaleffekte verpufft sind. Das wird spätestens Anfang 2023 der Fall sein. Weil der Teuerungsausgleich nur heuer wirkt, wie Ökonom:innen sagen. Wenn bis zum Jahreswechsel die Mieten inflationsbedingt weiter steigen und im Winter die Heizrechnung um ein paar Hundert Euro höher ist, dann ist das eine Summe, die viele nicht mehr wirklich stemmen können. „Das ist sozialer Sprengstoff“, wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang Juli in einem ARD-Fernseh-Interview nannte.
Das sind die Treiber der Inflation
„Die Politik lässt die Inflation in Österreich wüten“, sagt der Ökonom Oliver Picek. Fast alles ist in den vergangenen Wochen und Monaten teurer geworden. Besondere Preistreiber sind neben den Mieten die Kosten für Gas und Strom, Treibstoffe, Lebensmittel, aber auch die Preise in der Gastronomie.
1 / Durch die Teuerung wird bei den Mieten ein Automatismus ausgelöst: Mieten, die an den Verbraucherpreisindex angepasst sind, steigen bei entsprechender Inflation automatisch. Hunderttausende Mieter:innen haben in den vergangenen Monaten bereits ein bis zwei Preiserhöhungen durchgemacht. Die nächste könnte schon im Dezember drohen.
2 / Die Gaspreise gehen seit Beginn des Ukraine-Kriegs und aufgrund der Boykott-Politik der Europäischen Union (EU) durch die Decke. Dasselbe gilt für die Spritpreise. Der Aufwand für Energie ist heuer von Jänner bis April um fast ein Viertel gestiegen. In denselben Perioden davor waren es jeweils 0,6 Prozent.
3 / Die Strompreise werden durch eine Berechnungsregel verteuert. Die Merit-Order-Regel. Es produzieren zwar Wind- und Solarparks, aber auch Speicher- und Laufkraftwerke gerade in den Sommermonaten billige erneuerbare Energie. Die Hersteller verkaufen sie aber aufgrund der besagten Regel überteuert.
4 / Steigende Benzin- und Dieselpreise schlagen bei Pendler:innen durch. Diese haben oft keine Alternative. Das müsste differenziert betrachtet werden. Weil es Pendler:innen gibt, die die Preisanpassungen nicht spüren. Und viele andere, die pendeln müssen, um rechtzeitig bei Schichtbeginn in der Fabrik zu sein.
5 / Die Teuerung schlägt jetzt auch unmittelbar auf Lebensmittelpreise durch.
6 / Der Mehrwertsteuersatz für Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe sank im Zuge der Corona-Krise auf fünf Prozent. Viele Betriebe haben ihre Preise aber unverändert gelassen und die höhere Gewinnspanne eingesteckt. Als der ermäßigte Steuersatz Anfang Jänner ausgelaufen war, haben die meisten Betriebe die nun wieder höhere Mehrwertsteuer auf ihre Preise aufgeschlagen und ein zweites Mal kassiert.
Entlastende Finanzierungen
Elisabeth Springler sieht die Stützungsmaßnahmen der Politik zwar positiv, „sie könnten aber weitaus höher sein. Denn damit ist Österreich nicht an der Spitze, sondern gerade einmal im Mittelfeld Europas. Andere Länder sehen weitaus mehr direkte Maßnahmen für die Bevölkerung vor“. Dabei hebt sie vor allem das südeuropäische Griechenland und auch die skandinavischen Länder hervor.
Springler spricht sich für die Einführung von Vermögensteuern aus, um die Menschen in Österreich zu entlasten. Aber auch für das Anpassen der Erbschaftsteuer. Außerdem will sie an der Spekulationsteuer festhalten, „damit wir uns das Unterstützen der Schwächsten leisten können“. Sie sagt auch, dass der Staat Anteile der Grundsteuer und die höheren CO2-Abgaben für die Finanzierung der Sozialausgaben verwenden soll. Um das Wüten der Inflation zu bremsen, schlägt Oliver Picek vor, „die Inflationsanpassung von Wohnungsmieten ausuzsetzen. Und zwar jedenfalls für zwei Jahre“. Und Elisabeth Springler will „spekulationsgetriebene Mietsteigerungen verhindern, um der Gewinn-Preis-Spirale bei privaten Wohnungen entgegenzuwirken“.
Tägliches Brot
Picek kann sich eine auf ein Jahr befristete Mehrwertsteuersenkung auf null Prozent für „Grundnahrungsmittel vorstellen. Also auf Brot, Butter, Mehl, Eier bis hin zum Tiefkühlgemüse. Weil sich armutsgefährdete Menschen kein frisches Gemüse leisten können“. Laut Preisgesetz müssen die Unternehmen Preissenkungen zwar weitergeben, doch müsse das auch kontrolliert und sanktioniert werden. Das lässt sich, so Picek, etwa „durch die Scannerkassen in den Supermärkten gut überprüfen. Mit dieser Maßnahme könne jede Person in einem Haushalt 50 Euro pro Jahr sparen. Gleichzeitig seien „die Kosten von 100 Millionen Euro jährlich für den Fiskus überschaubar“. Für ausgewählte Brotsorten, wie ein halbes Kilo Mischbrot, könne man zusätzlich noch einen Höchstpreis einführen. Und auferlegen, dass es in den Geschäften immer verfügbar sein muss. „Brot-Höchstpreise gab es in Österreich bis 1987“, sagt Picek.
Bei den Energiepreisen sieht Picek mehrere Möglichkeiten. Einerseits würden Energieversorger, die Strom mittels Wasser- oder Windkraft oder Sonnenenergie erzeugen, jetzt ungerechtfertigte Gewinne einstreifen. „Die Bundeswettbewerbsbehörde bestätigt unsere Berechnungen“, sagt Picek, „und diese Gewinne müssen notwendigerweise abgeschöpft werden. Dafür gibt es Vorbilder in Europa, etwa Großbritannien.“ Andererseits sollten bei Strompreisen für Konsumenten Preisdeckel eingezogen werden. Wie das in Frankreich geschieht.
Was Picek noch besser gefällt, ist die Energiepreis-Lösung in der Schweiz: „Dort hat man einen Durchschnittspreis aller Herstellungsarten gebildet. Also von Atomstrom über Strom aus Gaskraftwerken, bis hin zu Photovoltaik und Wasserkraft. Dieser Preis ist die Grundlage für die Preise, die die Kund:innen bezahlen“, sagt Picek. Mit ein Grund dafür, warum die Schweizer:innen gerade jetzt eine niedrige Teuerung erleben.
Sozialstaatliches Erfolgsmodell
Der Rechnungshof lässt in seiner jüngsten Analyse kein gutes Haar an dem ersten Pandemiejahr Österreichs. Er stellt grobe Mängel am Management der Pandemie fest. Dennoch hat sich das österreichische Gesundheitssystem während der Corona-Krise gut geschlagen. Und zwar gerade weil die Regierung früher die Vorgaben der OECDhin zu einem schlankeren Gesundheitssystem ignoriert hat. Deshalb sei Österreich in der Lage gewesen, die medizinische Versorgung der Menschen während der Pandemie sicherzustellen. Abgesehen von der teilweise großen und stetig wachsenden Personalnot in vielen Gesundheitseinrichtungen. Für den Rückbau des Sozialstaats ist jetzt jedenfalls der falsche Zeitpunkt. Im Gegenteil, wie Picek betont. „Wir müssen alle Sozialleistungen über die Armutsschwelle heben.“
Neben dem Gesundheitssystem stand während der Corona Pandemie der Arbeitsmarkt im Brennpunkt. In kürzester Zeit musste der Sozialstaat abfedernde Maßnahmen gegen die unglaublich stark wachsende Arbeitslosigkeit stemmen. Denn binnen nur zwei Monaten wurden beim Arbeitsmarktservice (AMS) rund 200.000 Menschen zur Kündigung gemeldet. Die Sozialpartner haben als Antwort darauf gemeinsam die Kurzarbeit auf die Beine gestellt. Sie wurde zum Erfolgsmodell und hielt Hunderttausende Menschen weiter in Beschäftigung. Von März 2020 bis Ende Jänner 2022 gab der österreichische Staat rund 9,27 Milliarden Euro aus. Der Nutzen: sozialer Frieden. Denn die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer:innen hatten und haben noch immer deutliche finanzielle Vorteile gegenüber Arbeitslosigkeit. Sie beziehen ein stabiles Mindesteinkommen. Und sie können jedenfalls bis Ende des Jahres 2022 von einem aufrechten Dienstverhältnis profitieren.
Die Regierung setzt es sich nicht
zum Ziel, die Teuerung zu bekämpfen, sondern sie will nur die negativen
Effekte der Teuerung bekämpfen.
Elisabeth Springler,
Professorin für Makroökonomie an der Fachhochschule des bfi Wien
Leben oder überleben?
Heute ist angesichts der Teuerung die Wertanpassung bei Sozialleistungen dringend notwendig. Dagegen sind das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe aktuell noch von einer Wertanpassung ausgenommen. Sybille Pirklbauer, Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik der Arbeiterkammer Wien kritisiert das vehement. „Schon jetzt sind die in Österreich ausbezahlten 55 Prozent des letzten Aktivbezugs in sehr vielen Fällen armutsgefährdend.“
Wenn die Geldentwertung weiter so stark zulegt, leiden vor allem arbeitslose Menschen. Sie trifft ein doppelter Effekt. Wenn das Arbeitslosengeld weniger wird, brauchen sie mittelfristig ihre ganzen Ersparnisse auf. Ab Mitte des Monats drehen immer mehr jeden Euro dreimal um, ehe sie ihn dann ausgeben. Während der Wintermonate beheizen sie oft nur noch einen Raum in ihrer Wohnung. „Für viele Betroffene ist das eine Teufelsspirale“, sagt Pirklbauer. Sehr oft sind es langzeitarbeitslose Menschen, die entweder älter als 50 Jahre oder gesundheitlich stark eingeschränkt sind.
Armutsfest machen
Die Erstberechnung des Arbeitslosengeldes richtet sich nach dem Einkommen. In Österreich sind es, wie oben erwähnt, 55 Prozent des letzten Aktivbezugs. Damit liegt Österreich im OECD-Vergleich im unteren Drittel. Das sieht auch Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmarktservice, kritisch. Er räumt im A&W-Interview ein, dass „das Arbeitslosengeld in Österreich im internationalen Vergleich eher niedrig ist. Man müsste am Anfang etwas drauflegen.“ Der OECD-Durchschnitt der sogenannten Nettoanpassungsrate liegt bei 63 Prozent. Spitzenreiter Belgien bezahlt arbeitslosen Menschen sogar mehr als 90 Prozent ihres Aktivbezugs. Dänemark, Litauen, Luxemburg, Slowenien mehr als 80 Prozent.
Österreich ist mit seinen 55 Prozent geringfügig besser als die Türkei. Deshalb rutschen hierzulande sehr viele Menschen unter die Armutsschwelle von derzeit 1.371 Euro. Das sind neben Bezieher:innen von Mindestsicherung vor allem auch viele Pensionist:innen. Viele bekommen gerade einmal 1.141 Euro. Inklusive der 13. und 14. Pension. Für viele ist das zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Denn der Abstand zur Armutsschwelle beträgt jetzt 230 Euro. Daher müssen heuer auch Mindestpensionen überproportional angehoben werden. Parallel gibt es aber auch Gedankenspiele, Hartz 4 in Österreich zu etablieren.
Neuer Höchststand: Die Inflation lag im Juni bei 8,7 %. Wie viele Rekorde müssen wir noch abwarten, bis endlich was passiert? Wir fordern u.a. einen #Energiepreisdeckel und eine Preiskommission, die in die Preisgestaltung eingreift, statt nur zu beobachten!#Preiserunter
— ÖGB (@oegb_at) July 19, 2022
Falsche Zentralbank-Signale?
Die US-amerikanische Notenbank und die Europäische Zentralbank (EZB) drehen schon an der Zinsenschraube. Amerika hatte den ersten Zinsschritt bereits im Juni, Europa plant eine Zinserhöhung für Herbst. Die Erhöhung in Europa ist in den Augen von Elisabeth Springler „gerade jetzt das falsche Signal. Die Teuerung ist weder auf eine Überhitzung der Wirtschaft noch auf eine Geldschwemme zurückzuführen. Sondern auf eine angebotsseitige Rohstoffverknappung. Zinsschritte sind gegen die importierte Inflation machtlos.“ Im Gegenteil verteuern steigende Zinsen Investitionen und würgen das Wirtschaftswachstum ab. Auch zu viel Sparen schade der wirtschaftlichen Entwicklung. Springlers Rat: „Zinsen niedrig belassen, um den europäischen Staaten fiskalpolitischen Spielraum zu geben. Damit die Verzinsung der Staatsanleihen weiterhin niedrig bleiben kann.“