Um dem Arbeitskräftemangel in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft unmittelbar entgegenzuwirken, werden in diesem Bereich die Saisonierkontingente um 1.000 Personen und somit 50 % erhöht. (1/3)
— Martin Kocher (@MagratheanTimes) July 6, 2022
Was ist die List der Mangelberufe?
Ein Mangelberuf ist ein Job, auf den innerhalb eines Jahres weniger als 1,5 Arbeitssuchende pro offene Stelle zur Verfügung stehen. Ist das der Fall, können Unternehmen Arbeitskräfte auch aus Staaten außerhalb der EU, sogenannten Drittstaaten, anwerben. Unterschieden wird zwischen einer bundesweiten Liste und regionalen Listen. Kellner:innen standen zum Beispiel schon bisher auf einzelnen Bundesländer-Listen. Nun finden sie sich auch auf der Aufstellung für ganz Österreich.
WKÖ-Präsident Harald Mahrer erklärte zudem: „Das ist eine gute Nachricht für die heimischen Tourismusbetriebe, wo derzeit viele Jobs unbesetzt sind. Die Aufstockung des Saisonierkontingents und die Ausweitung der Mangelberufsliste sind Akutmaßnahmen, die sofort und spürbar wirken werden“. Doch ist der Jubel berechtigt? Arbeit&Wirtschaft fragte bei Expert:innen in Arbeiterkammer (AK) und ÖGB nach, wie sinnvoll es ist, immer mehr Berufe auf die Mangelberufsliste zu setzen.
Welche Berufe sind Mangelberufe?
Die Mangelberufsliste umfasst mit Juli 2022 insgesamt 67 Berufe. Darunter mit den Gaststättenköch:innen ein weiterer aus dem Bereich Gastronomie. Ansonsten sind vor allem Gesundheitsberufe darauf. Also Ärzt:innen, diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger:innen, Augenoptiker:innen, medizinisch-technische Fachkräfte, Pflegefachassistent:innen, Pflegeassistent:innen. Längst fordert ÖGK-Obman Andreas Huss, dass die Regierung den Gesundheitsberufen mehr Beachtung schenken muss. Außerdem sind verschiedenste technische Berufe stark nachgefragt. Dabei sowohl Absolvent:innen von Lehrausbildungen als auch von höheren technischen Lehranstalten und technischen Universitäten.
Wenn ein Beruf als Mangelberuf eingestuft ist, macht dies Arbeitgeber:innen also möglich, auch außerhalb der EU nach Mitarbeiter:innen zu suchen. Löst man damit allerdings tatsächlich die angespannte Personalsituation? „Diese Entwicklung ist kritisch zu hinterfragen“, meint dazu Alexander Prischl, Leiter der Abteilung für Arbeitsmarkt und Bildungspolitik im ÖGB. „Gerade in der Gastronomie ist das Problem hausgemacht – wenn ich das Problem Jahre lang verleugne, darf ich mich nicht wundern, wenn ich am Ende des Tages ohne Fachkräfte dastehe.“
Entlassungen und Arbeitsbedingungen
Ja, die Covid-Pandemie habe das Problem verschärft. Aber auch da habe die Branche erneut vielfach falsch gehandelt. „Obwohl wir gesagt haben, wartet, bis ihr die Leute kündigt, es wird eine Kurzarbeitsregelung geben, wurden reihenweise Mitarbeiter:innen gekündigt. Sie haben Jobs mit besseren Arbeitsbedingungen gefunden und gehen nun nicht mehr in den Tourismus und die Gastronomie zurück.“ À la longue würde aber auch die Möglichkeit, hier Menschen aus Drittstaaten nach Österreich zu holen, die bestehenden Probleme nicht lösen. „Irgendwann war dann der letzte Saisonarbeiter aus Usbekistan da und hat mitgekriegt, dass es auf der Almhütte nicht so lustig ist.“
Ähnlich sieht das Silvia Hofbauer, Leiterin der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration in der AK Wien. Der Arbeitskräftemangel sei durch viele Faktoren bedingt. Die teils zu niedrige Bezahlung, gerade etwa in der Gastronomie, sei davon nur einer. Es gehe auch ganz stark um die Rahmenbedingungen der Arbeit. Also die Arbeitszeiten und die Menge der Arbeitsstunden. Sind etwa viele Überstunden zu leisten oder gibt es Arbeitszeitmodelle, die den Beschäftigten auch entgegenkommen. Aber auch die Erreichbarkeit sowie Dinge wie Kinderbetreuung seien wesentliche Faktoren, ergänzt Prischl. „Warum gehen in einer Tourismusgemeinde beispielsweise nicht mehrere Betriebe her und eröffnen einen gemeinsamen Kindergarten?“ Auch vida-Chef Roman Hebenstreit bezeichnete den Tourismus als unbelehrbare Branche.
Mit Ausbildung gegen den Fachkräftemangel
Neben diesen unmittelbaren Gründen, warum sich Menschen für oder gegen einen Job entscheiden, gibt es aber auch die strukturellen Fragen. Was tut eine Branche, um Nachwuchskräfte auszubilden? Hofbauer verweist hier auf Berufe, die sich schon seit vielen Jahren auf der Mangelberufsliste finden. Seit zehn Jahren sind dies zum Beispiel Dachdecker, Schlosser oder Schweißer. „Hier braucht es Ausbildungsoffensiven und auch Angebote für Quereinsteiger:innen, um sich umschulen zu lassen.“
Sie stelle allerdings fest, dass es bei vielen Betrieben schon daran scheitere, einen mittelfristigen Personalbedarf zu formulieren. Die AK-Expertin nennt als Beispiel Installateurbetriebe. „Derzeit gehen sie vor Aufträgen unter, die Auftragsbücher sind bis Jahresende gefüllt. Andererseits wissen sie, dass ihnen für die Umrüstung auf neue Energieformen die dafür ausgebildeten Fachkräfte fehlen.“ Da müsse man sich dann eben schon etwas überlegen, „da geht es nicht nur um das, was ich jetzt brauche, sondern ich muss mich fragen, wie schaut es in einem halben Jahr aus oder in einem Jahr?“
Lösung bei Mangelberufen: Vielen fehlt die Weitsicht
Stichwort Ausbildung. Hier ortet auch Prischl teilweise Kurzsichtigkeit. Interessanterweise seien Familienunternehmen oft sehr engagiert, wenn es um Lehrlingsausbildung gehe. „Hier gibt es eine längerfristige Planung“, so der ÖGB-Experte. Anders sehe es oft aus, wenn in einem Unternehmen ein Manager für nur fünf Jahre eingesetzt sei. Hier würde dann eben oft die vorausschauende Perspektive fehlen.
Prischl plädiert aber auch für Lehrberufe mit breiterer fachlicher Basisqualifizierung. Die Spezialisierung könne dann jeweils im Job durch entsprechende Zusatzqualifizierung erfolgen. Als Beispiel nennt er den Metallbereich. Dreher, Schweißer, Schlosser – all das wird in einem gemeinsamen Lehrberuf Metalltechnik erlernt. Am Arbeitsplatz finde dann das viel zitierte lebenslange Lernen statt.
Wann wurde die letzte komplett neue HTL eröffnet?
Doch nicht alle Mangelberufe sind Lehrberufe. Dem Ärzt:innenmangel könnte man zum Beispiel durch mehr Studienplätze für Medizin entgegenwirken – dann bräuchten die Universitäten aber auch die entsprechenden Ressourcen, um mehr Kapazitäten zu schaffen, so der ÖGB-Experte. Mehr Kapazitäten brauche es aber auch zum Beispiel im Bereich der Höheren Technischen Lehranstalten. „Wann ist die letzte komplett neue HTL eröffnet worden?“
Im Bereich Pflege habe man das Problem bereits angegangen und forciere Ausbildungen in diesem Bereich, betont Hofbauer. Zuwanderung sei in Ordnung – wenn dabei auch die Integration mitgedacht werde, was leider oft nicht der Fall sei – allerdings sei das auf Dauer keine Lösung, sagt die AK-Expertin. „Das Um und Auf sind die Arbeitsbedingungen, die Bezahlung, Aus- und Weiterbildungen und auch gesundheitsfördernde Maßnahmen.“
Mangelberufe: Unternehmen stehen in der Pflicht
Hofbauer regt zudem an, die Kriterien für die Liste der Mangelberufe zu erweitern. Nur auf die freien Stellen zu fokussieren, nehme die Arbeitgeber nicht in die Pflicht. „Das ist kein ideales Modell.“ In Deutschland beschreite man hier einen anderen Weg und berücksichtige auch andere Faktoren. Als Beispiele nennt die AK-Expertin etwa die Lohnentwicklung, Möglichkeiten zur Weiterbildung, Lehrlingsausbildung im Betrieb.
Der Arbeitsmarkt hat sich nach dem #Corona-Schock schneller als erwartet erholt. Aber: Die Betriebe jammern über #Fachkräftemangel, investieren aber wenig in #Weiterbildung ihrer Mitarbeiter:innen, obwohl die Bereitschaft der Arbeitnehmer:innen hoch ist. https://t.co/iiPVI108Fe pic.twitter.com/g95dYl870C
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@AundWMagazin) July 3, 2022
Nur „Hilfe, Hilfe“ zu schreien, werde auf lange Sicht seitens der Unternehmen eben nicht ausreichen, betont Prischl. „Die Regierung muss die Branchen zwingen, über ihre Probleme nachzudenken. Das tun sie aber nicht, wenn man ihnen dauernd irgendwelche Beruhigungspillen gibt. Damit bestätige ich ihnen nur, dass sie recht haben. Nur werden weder mit der Mangelberufsliste noch mit der Rot-Weiß-Rot-Karte die tausenden Arbeitskräfte kommen.“ Den Fachkräftemangel werde man nur mit einer Strukturreform in den Griff bekommen.
Eine Übersicht über die Arbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel in Österreich gibt es hier.