Das Entlastungspaket gegen die Inflation entzieht der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) Geld. Der Rechnungshofbericht stellt der Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur ÖGK ein verheerendes Zeugnis aus. Von der versprochenen Patient:innenmilliarde fehlt jede Spur. Gleichzeitig hat die Coronapandemie gezeigt, wie wichtig die Gesundheitsversorgung und der Sozialstaat ist. Doch der demografische Wandel und der technische Fortschritt kosten Geld. Ausgerechnet hier spart die Bundesregierung aber seit Jahren. In diesem Spannungsfeld versucht Andreas das beste für die Versicherten herauszuholen. Er ist seit 2020 Obmann-Stellvertreter (jeweils im ersten Halbjahr) und Obmann (jeweils im zweiten Halbjahr) der ÖGK. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft spricht er über die Aufgaben, Probleme und Lösungen.
Andreas Huss, ÖGK-Obmann, im Interview
Arbeit&Wirtschaft: Vor zweieinhalb Jahren wurden die Gebietskrankenkassen zur ÖGK zusammengeführt. Welche Vorteile haben sich daraus für Arbeitnehmer:innen ergeben?
Andreas Huss: Da gibt es einiges an Licht, da gibt es aber auch noch einiges an Schatten. Durch die Zusammenlegung ist die Regionalität etwas verloren gegangen. Ich habe mit der Zusammenlegung zur ÖGK mittlerweile insgesamt kein Problem. Aber wir als Arbeitnehmer:innen-Interessensvertretung sagen, ja, es braucht zentrale Ziele. Wir müssen unsere Gesundheitsversorgung österreichweit einheitlich ausrollen, damit alle denselben Zugang haben. Aber in der Region müssen wir auch auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen. Das ist das, was nicht so gut funktioniert, da werden wir nachjustieren.
Es gibt auch Dinge, die gut gelaufen sind. Wir haben vor der Zusammenlegung im alten Hauptverband schon begonnen, die Leistungsharmonisierung zu thematisieren. Wir hatten unterschiedlichste Leistungsniveaus bei verschiedensten therapeutischen Leistungen bei den Gebietskrankenkassen, aber auch bei den Sonderversicherungsträgern. Da haben wir schon vor der Fusion begonnen, diese Leistungen anzupassen, natürlich auf das jeweils höchste Niveau, nicht nach unten, das haben wir in der ÖGK fortgesetzt. Wir haben bei der Psychotherapie das Land genommen, das hier am besten ausgestattet ist, das war Salzburg, und haben alle anderen Bundesländern auf das Salzburger Niveau angehoben. Das haben wir mittlerweile bei der Ergotherapie gemacht, bei der Logopädie, der Physiotherapie. Die große Baustelle ist noch der ärztliche Leistungskatalog, das ist die Aufgabe für den Herbst. Leider haben wir das nur innerhalb der ÖGK erreicht. Die Beamten (BVAEB) und die Selbstständigen (SVS) haben weiterhin bessere Leistungen.
Es gibt im Bereich der medizinischen Versorgung einige Problemlagen von der Versorgung von Long Covid-Patient:innen bis zur Schwierigkeit, Mediziner:innen zu finden, die eine Kassenordination übernehmen. Beginnen wir mit Long Covid. Wie groß ist aus der Sicht der ÖGK das Problem?
Long Covid ist eine neue Erkrankung, die in vielen Formen auftreten kann. Da war es notwendig, mit der ÖGAM, der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, einen Leitfaden zu erstellen. Wir haben Fragebögen für Ärzt:innen entwickelt, um diese Krankheit richtig diagnostizieren zu können. Wir haben mittlerweile rund 70.000 Patient:innen (Kinder, Jugendliche und Pensionist:innen sind hier nicht erfasst, weil wir von ihnen keine Krankenstandsdaten haben), die seit Pandemiebeginn an Long Covid leiden oder gelitten haben. Das hat sich vervielfacht in den letzten Monaten, weil immer mehr diagnostiziert wurden. Wir sehen mittlerweile 130 Patient:innen, die schon länger als ein Jahr und um die 250 Patient:innen, die schon ein halbes Jahr im Krankenstand sind (Stand Juni 2022).
Erstanlaufstelle sind die Hausärzt:innen, das scheint jetzt zu funktionieren. Was wir aber noch brauchen, ist fachärztliche Unterstützung für die Hausärzt:innen. Hier brauchen wir noch gute interdisziplinäre Ambulanzen. Es nützt nichts, bei dieser Erkrankung nur zu einem Lungenarzt, Internisten oder Neurologen zu überweisen. Man braucht das ganze Team dieser Fachärzte. Solche Spezialambulanzen gibt es bereits in Wien und Graz und es wird nun auch eine in Innsbruck aufgebaut. Die braucht man in Wirklichkeit in allen Bundesländern. Die Patient:innen, die betroffen sind, brauchen wirklich professionelle Hilfe.
Schlecht sieht es mit der Versorgung von Menschen mit chronischen Erkrankungen wie etwa Diabetes aus. Hier gibt es zum Beispiel keinen verpflichtenden Versorgungssauftrag für Allgemein:medizinerinnen mit Kassenvertrag?
Da braucht es eben diesen Versorgungsauftrag. Ich wundere mich in Österreich immer, dass wir den Ärzt:innen wie in diesem Fall extra ein Honorar bezahlen müssen, sie extra schulen müssen, um zu gewährleisten, dass die ihren Job machen können. Mein Zugang wäre, dass ein Mediziner, egal ob er Internist oder Allgemeinmediziner ist, mit dem Thema Diabetes professionell umgehen kann. Wir haben jedenfalls unser Disease Management Programm schon seit einigen Jahren laufen. Wir schulen hier die Ärzt:innen sehr intensiv. Ärzt:innen, die in diesem Programm mitmachen, bekommen ein extra Honorar, wenn sie diese Menschen gut betreuen.
Leider ist es so, dass ein überwiegender Großteil der Ärzt:innen bei diesem Programm einfach nicht mitmacht. Und aus dem Grund brauchen wir parallel eine Versorgungsstruktur, die wir jetzt in Wien beginnen und die in anderen Bundesländern schon in Entwicklung ist. Es ist eine Zentrumslösung, die wir uns in Dänemark angesehen haben. Wir sind in Österreich, was die Amputationen, aber auch Erblindungen aufgrund schlecht behandelter Diabetes-Erkrankungen betrifft, wirklich Schlusslicht in Europa. Es gibt aber auch andere Erkrankungen, wo wir keine gute Versorgungssituation haben, wie bei COPD, einer chronischen Lungenerkrankung.
Für Schlagzeilen hat zuletzt das Fehlen von ausreichenden Spitalskapazitäten, aber auch von niedergelassenen Ärzt:innen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesorgt. Zusätzlich hinkt auch der Ausbau von kassenfinanzierter Psychotherapie für Kinder, aber auch für Erwachsene dem Bedarf hinterher. Wieso kommt man da nicht substanziell weiter?
Das Thema psychosoziale Versorgung ist mir ein ganz besonderes Anliegen. Wir haben als Arbeitnehmer:innen-Interessenvertretung gegen viel Widerstand durch die Wirtschaftskammer den Ausbau der Psychotherapie vorangetrieben. Wir erhöhen die Psychotherapie-Kassen-Plätze um 30 Prozent bis Ende 2022. Die Psychotherapie ist aber nur ein Teil der psychosozialen Versorgung. Wir müssen psychosoziale Versorgung wirklich multidisziplinär denken. Da sind Kinder- und Jugendpsychiater:innen ein wichtiges Thema, aber auch Psycholog:innen. Sie sind derzeit noch keine erstattungsfähige Leistung, das müssen wir ändern. Wir brauchen mehr Psychotherapie. Aber wir brauchen vor allen Dingen viel mehr Sozialarbeit. In multidisziplinären Versorgungszentren sollen all diese Berufsgruppen zusammenarbeiten. Wir müssen die Probleme, die zum psychischen Problem geführt haben, lösen, um dann therapieren zu können.
Sorgen macht auch der zunehmende Mangel an Kassenärzt:innen. Zusätzlich kündigt sich eine Pensionierungswelle in den kommenden Jahren an. Was muss sich ändern, damit sich mehr Jungmediziner:innen für den Kassenvertrag entscheiden?
Wir haben keinen Ärztemangel, wir sehen nur, dass sich die Lebensumstände und Ansprüche von Ärzt:innen massiv verändert haben. Der Arztberuf ist zum Glück weiblicher geworden. Das war in den 1990er Jahren noch vollkommen anders. Da war der Arztberuf wirklich noch ein männlicher Beruf. Man war in den 1990er Jahren Landarzt und 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche für die Patient:innen da. Ich verstehe, dass junge Männer, aber auch Frauen das heute nicht mehr wollen. Darauf müssen wir reagieren. Wir sind in einem Umbruch von der Einzelkämpfer-Praxis hin zu Zusammenarbeitsformen, Stichwort Primärversorgungszentren.
Ein weiteres Problem ist, dass es in manchen Bereichen nur mehr Wahlärzt:innen mit freien Kapazitäten gibt. Hartnäckig hält sich dann als einer der Gründe dafür, dass man als Kassenarzt zu wenig verdient?
Da bin ich froh, dass der Rechnungshof und das Institut für Höhere Studien sich dieses Themas angenommen und sich angeschaut haben, stimmt das überhaupt, dass Kassenärzte so wenig verdienen? Das Gegenteil ist der Fall. Kassenärzt:innen sind unter allen freiberuflichen Berufen in Österreich die absoluten Bestverdiener:innen. Ein Allgemeinmediziner hat eine durchschnittliche Honorarsumme im Jahr von rund 300.000 Euro im Schnitt. Davon bleiben ihm als persönliches Einkommen vor Steuer rund 150.000 Euro pro Jahr. Wenn man das herunterrechnet auf ein normales Arbeitnehmer:inneneinkommen, dann kommen da rund 6.000 Euro netto 14 mal im Jahr heraus.
Allgemeinmediziner:innen sind aber die Gruppe, die unter allen Fächern in der Medizin am wenigsten verdient. Labormediziner:innen haben ein persönliches Einkommen von 670.000 Euro pro Jahr. Das heißt, die Ungleichheit zwischen den medizinischen Fächern ist eigentlich das Problem. Aus dem Grund fahren wir hier auch die Strategie bei unseren Honorarverhandlungen, dass wir in den letzten Jahren etwa die Allgemeinmedizin und die Kinderärzt:innen relativ stark bis zu zehn Prozent im Jahr erhöht haben und die technischen Fächer fast gar nicht, um hier langsam zu einem Ausgleich zu kommen.
All das kostet Geld. Wie sieht es derzeit einnahmenseitig aus? Und wie wirkt sich die Senkung des Unfallversicherungsbeitrag um 0,1 Prozent auf die ÖGK aus?
Die wirkt sich dramatisch aus. Wir haben ja, als die ÖGK gegründet wurde, einen riesengroßen Rucksack von der damaligen schwarz-blauen Regierung mitbekommen. Die Mittel für Arbeitsunfälle sind massiv reduziert worden, schon damals. Und jetzt werden sie noch einmal auf 140 Millionen Euro reduziert. Anspruch hätten wir eigentlich auf 210 Millionen Euro.
Aber es gibt auch das Thema Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds. Wir müssen nun als Krankenversicherung rund 15 Millionen Euro mehr im Jahr in diesen Prikraf einzahlen. Dass eine Schönheitsklinik in den Fonds hineinkam, war der Wunsch des damaligen Vizekanzlers Strache. Der Wunsch der ÖVP war, dass mehr Geld in diesen Prikraf hineinkommt. Und diese 15 Millionen Euro landen zur Hälfte in den fünf Spitälern der Uniqa Versicherung. Zufällig war der damalige Finanzminister der ehemalige Generaldirektor der Uniqa Versicherung. Das ist also auch ein Politikum.
Hier fordern wir, dass dieses Geld wieder zurückgegeben wird. Es ist unzulässig, dass man den Beitragszahler:innen hier Geld abnimmt, wenn parallel die private Krankenversicherungen im Jahr 2021 2,5 Milliarden Euro an Prämien eingenommen, aber nur 1,4 Milliarden Euro an Leistungen ausbezahlt, also über eine Milliarde Euro Gewinn gemacht haben. Das Ergebnis ist aber nicht, dass sie diesen Gewinn in die privaten Krankenhäuser, in die private Medizin hineinstecken, sondern dass uns als Beitragszahler:innen zusätzliches Geld weggenommen wird. Das ist skandalös.
Was haben Sie sich als Schwerpunkte für die kommenden Monate vorgenommen?
Der wichtigste Schwerpunkt für die kommenden Monate sind jetzt die Verhandlungen mit der Ärztekammer, was vier Themen betrifft. Das erste ist der einheitliche ärztliche Leistungskatalog. Diesen sehen wir dann auch als Versorgungsauftrag, sodass es nicht im Entscheidungsspielraum der Ärzt:innen liegen kann, ob sie Leistungen erbringen möchten oder nicht, wie bei der Diabetes-Versorgung zum Beispiel.
Was wir hier ebenfalls mitdenken müssen, ist die Diagnose-Kodierung. Wir haben in Österreich als einziges Land in Europa noch immer keine einheitliche, international standardisierte Diagnose-Kodierung. Das macht es uns relativ schwer, Krankenstände auszuwerten, wie zum Beispiel bei Long Covid. Das macht es insgesamt im Gesundheitssystem aber auch schwer, Daten zu generieren, um das Gesundheitssystem auch entsprechend auszurichten auf Erkrankungen und die Therapien.
Wir müssen das Wahlärzt:innen-Thema angehen und unterscheiden zwischen Wahlärzt:innen, die versorgungswirksam sind, und denen, die es nicht sind. Da gibt es auch noch einen Punkt, über den man reden muss. Wir schauen uns ja die Wahlärzt:innen-Abrechnungen regelmäßig an. Ein Drittel dieser Abrechnungen sind zum Teil noch mit der Hand geschrieben, wo unsere Mitarbeiter:innen dann in mühevoller Kleinarbeit herausfiltern müssen, welche dieser fünf Positionen, die da oben stehen, jetzt wirklich eine Kassenleistung sind und welche Leistungen irgendwie in den Bereich der Esoterik gehören. Das ist eine irrsinnige Aufgabe.
Wir möchten ein Wahlarzt-System neu entwickeln, dass Wahlärzt:innen auch dazu verpflichtet, das E-Card-System zu benutzen. Wir haben 10.000 Wahlärzt:innen, aber nur 460 nutzen das E-Card-System. Das heißt, Wahlärzt:innen sind für uns von der Diagnostik, von den Medikamenten her wirklich eine Blackbox, und wir wissen nicht, was im Wahlarztsystem wirklich passiert. Und Wahlärzt:innen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, müssen auch eine Mindestversorgung von zumindest zehn Stunden an Ordinationszeiten haben. Alle anderen sind in Zukunft Privatärzt:innen und sollen mit dem öffentlichen Gesundheitssystem auch nichts mehr zu tun haben.
Aber medizinische Versorgung funktioniert nicht nur mit Ärzt:innen. Wir haben ganz viele Menschen in Gesundheitsberufen arbeitend. Wir haben Pflegekräfte, die Community nurse ist gerade ein großes Thema in den Gemeinden. Pflegekräfte können viel ärztliche Tätigkeit abnehmen. Wir haben in Salzburg im Primärversorgungsvertrag jetzt auch die Pflegevisite aufgenommen, dass nicht der Arzt Visite fahren muss, sondern Pflegekräfte Visite fahren können. Es gibt in der Primärversorgung viele Gesundheitsberufe wie Sozialarbeiter:innen, Psychotherapeut:innen, die hier auch gut mitarbeiten und Ärzt:innen entlasten können. Und diese Gesundheitsberufe muss man vor den Vorhang holen und auch arbeiten lassen.