Krisen am Arbeitsmarkt: Der Wert der Arbeit

ÖGB Expertin Miriam Baghdady und Sabine Rehbichler, Geschäftsführerin von Arbeit plus fühlen den Krisenbewältigungsstrategien auf den Zahn.
Fotos (C) Markus Zahradnik
Sabine Rehbichler, Geschäftsführerin von arbeit plus, und ÖGB-Volkswirtschaftsexpertin Miriam Baghdady vermissen bei den Krisenbewältigungsstrategien der Arbeitsmarktpolitik eines – das soziale Gewissen.

Die Menschen in Österreich sind mit einer Vielzahl von Krisen konfrontiert. Doch die Arbeitsmarktpolitik scheint darauf nur mangelhafte Antworten zu haben. Langzeitarbeitslosigkeit einerseits und ein vermeintlicher Fachkräftemangel andererseits setzen die Menschen noch zusätzlich unter Druck. Sabine Rehbichler, Geschäftsführerin von arbeit plus, und Miriam Baghdady, ÖGB-Volkswirtschaftsexpertin, unterhalten sich gemeinsam mit Arbeit&Wirtschaft über die aktuelle Situation. Und über mögliche Lösungen.

Über die Krisen am Arbeitsmarkt

Arbeit&Wirtschaft: Die aktuelle Situation wird von unterschiedlichen Krisen bestimmt. Inflation, Fachkräftemangel, Klimakrise, Pandemie. Nähern wir uns der Einschätzung der Arbeitsmarktpolitik von dieser Seite an. Welche Handlungsfelder sehen Sie, die akut sowie strukturell angegangen werden müssen?

Miriam Baghdady: Grundsätzlich finde ich die Trennung zwischen akut und strukturell schwierig. Denn die strukturellen Probleme führen eigentlich in die akute Situation. Jedoch in der aktuellen wirtschaftlichen Situation ist das Anheben der Nettoersatzrate und der Sozialleistungen notwendig, um die Zahl der armutsgefährdeten Personen nicht weiter steigen zu lassen. Langfristig muss die Arbeitsmarktpolitik an vielen Punkten ansetzten. Wie Bildung, Wiedereingliederungsmaßnahmen von Langzeitarbeitslosen, wie etwa das Projekt MAGMA oder auch die Aktion 20.000, und es braucht natürlich die Arbeitgeber.

Miriam Baghdady im Interview über die Krisen am Arbeitsmarkt.
„An alle gerichtet, die so tun als handle es sich um ein vorübergehendes Phänomen, die Preise sind dauerhaft gestiegen“, unterstreicht Miriam Baghdady.
Unternehmen jammern gerne über den Fachkräftemangel.

Sabine Rehbichler: Aktuell sehen wir, dass sich anteilsmäßig immer mehr Menschen vom Arbeitsmarkt entfernen, sobald sie einmal langzeitarbeitslos sind. Wir müssen fragen, ob das derzeitige System im Sinne der Menschen gut ist. Es gibt hier gute Ansätze, denn ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn wir in den vergangenen Jahren keine aktive Arbeitsmarktpolitik gehabt hätten. Das reicht aber noch nicht. Es geht darum, den Wiedereintritt zu erleichtern, flexiblere Umschulungsmodelle und weitere Anreize für eine gerecht aufgeteilte Care- und Erwerbsarbeit zwischen Männern und Frauen aufzusetzen. Und in Hinblick auf die Bewältigung der Klimakrise müssen wir zu einem sektorenübergreifenden Denken kommen. Denn die Klimakrise ist auch eine soziale Krise und die beiden Krisen können nur gemeinsam gelöst werden.

Baghdady: Das kann ich nur unterstreichen. In Bezug auf die Klimakrise geht es um einen sozial gerechten Übergang, dessen Ausgestaltung und darum, dass Arbeitnehmer:innen mitgenommen werden. Besonders in den Unternehmen selbst. Darüber hinaus muss man Lösungen für die Auswirkungen der Klimakrise auf den Arbeitsmarkt suchen, auch etwa bei Berufen und Tätigkeitsbereichen, bei denen sich die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, ändern, wie etwa am Bau, wenn es öfter über mehrere Tage hinweg 35 Grad hat. Dass hitzebedingt nicht gearbeitet werden kann, bedeutet einen Einkommensverlust, und wenn das öfter in einem Jahr vorkommt, dann wird das zu einem Problem.

Aber ist der Hinweis auf den Fachkräftemangel gerechtfertigt?

Baghdady: Eigentlich handelt es sich um einen Fachkräftebedarf und nicht einen Fachkräftemangel. Unternehmen müssen bei der Ausbildung und den Arbeitsbedingungen ansetzen. Eine Person ist dann eine Fachkraft, wenn sie bestimmte Kenntnisse über einen Job hat. Wissensvermittlung und Ausbildung von Fachkräften sind zentrale Aufgaben von Unternehmen. Das muss wieder aufgeholt werden. Der zweite Bereich sind die Arbeitsbedingungen, also gute Löhne und die Arbeitszeiten. Das große Ziel der Arbeitsmarktpolitik darf ja nicht sein, den Niedriglohnsektor auszuweiten, sondern sicher zu stellen, dass die Arbeitsplätze, die es gibt, gute Arbeitsplätze sind. Und dann findet man auch mehr Interessent:innen. Und, wir müssen grundsätzlich über den Wert der Arbeit nachdenken.

Rehbichler: Da kann ich nur anschließen. Wir sind in der absurden Situation, eine relativ geringe Arbeitslosenquote und massiven Arbeitskräftebedarf zu haben und gleichzeitig einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen. Da ist es wichtig, auch von Unternehmensseite hinzuschauen, was Langzeitarbeitslose brauchen, um Fuß fassen können. Es braucht aber auch bessere Rahmenbedingungen, wie eine Unterstützung beim Einstieg für beide Seiten. Ein gemeinsames Ziel, kein Gegeneinander.

Sabine Rehbichler im Interview über die Krisen am Arbeitsmarkt.
„Es kann nicht Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein, die Menschen noch stärker in die Armutsfalle zu treiben“, so Sabine Rehbichler.
Laut Definition ist man nach mehr als 365 Tagen langzeitarbeitslos. Was kann im ersten Jahr getan werden?

Rehbichler: Menschen wollen arbeiten. Das sehen wir täglich in unseren sozialen Unternehmen. Und was wir noch sehen ist, dass viele es nicht können. Dafür reicht es, sich einmal die Strukturen bei langzeitarbeitslosen Menschen anzusehen. Es sind oft Frauen und ältere Menschen, vielleicht mit gesundheitlichen Problemen, wo es mehr Unterstützung braucht. Damit es gar nicht so weit kommt, müssen die Rahmenbedingungen, wie ausreichend und flexible Kindergartenbetreuung, genügend Pflegeeinrichtungen und -betreuung für die Eltern älterer Mitarbeiter:innen, geschaffen werden, damit Menschen arbeiten gehen können. Arbeitgeber wiederum erwarten sich Bewerber voller Selbstbewusstsein. Und genau hier liegt die Krux begraben, denn je länger Arbeitslosigkeit dauert, desto mehr schwindet das nötige Selbstbewusstsein. Denn Langzeitarbeitslosigkeit verschlechtert die psychische Gesundheit, und die verschlechterte psychische Gesundheit verschlechtert die Chancen auf einen Job. Es ist ein typischer Teufelskreis.

Baghdady: Es braucht definitiv nicht nur arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, sondern auch ein Umdenken bei den Unternehmen. Denn häufig sind Menschen über 50 Jahre betroffen. Unternehmen stellen diese Personen nicht ein, da sie denken, sie seien zu alt, zu teuer. Jedoch sehen sie nicht, dass es für diese Personen eine langfristige Perspektive im Unternehmen gibt, da sie noch zehn Jahre und mehr arbeiten. Die Unternehmen müssen reflektieren, wie sie dieses Arbeitskräftepotenzial noch nutzen und wie die Rahmenbedingungen dafür aussehen können.

Langzeitarbeitslosigkeit verschlechtert die psychische Gesundheit,
und die verschlechterte psychische Gesundheit verschlechtert die Chancen auf einen Job. 

Sabine Rehbichler, Geschäftsführerin Arbeit plus

Krisen am Arbeitsmarkt lösen

Vergangene Woche hat sich eine Verkäuferin einer Wiener Backkette bei mir entschuldigt, dass die Preise gestiegen sind. Selbst höchstwahrscheinlich Teilzeitangestellte mit geringem Lohn. Was empfinden Sie dabei?

Rehbichler: Wenn ich das höre, macht es mich sehr betroffen, weil ich die finanzielle Lage von vielen teilzeitarbeitenden Frauen kenne. Die Armutsgefährdung wird sich aktuell nochmals verschärfen. In unseren Unternehmen bekommen wir hautnah mit, dass das Arbeitslosengeld oftmals nicht ausreicht. Mit Blick auf die Pläne der Reform zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, wie etwa die Einschränkung oder Streichung der Zuverdienstmöglichkeiten, wird das Einkommen nicht nur weiter sinken, sondern die Menschen noch mehr aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden. Es kann nicht Ziel der Arbeitsmarktpolitik sein, die Menschen noch stärker in die Armutsfalle zu treiben. Es ist doch viel klüger – und günstiger – alles zu unternehmen, um diese Menschen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen.

Baghdady: An alle gerichtet, die so tun als handle es sich um ein vorübergehendes Phänomen, muss gesagt werden, das Preisniveau ist dauerhaft gestiegen. Die Preise sinken ja danach nicht, sie steigen halt vom hohen Niveau aus weniger stark. Nach aktuellem Stand sieht es so aus, dass die inflationsbedingten Mehrkosten allein bei Lebensmitteln 600 EUR in diesem Jahr betragen werden. Aber die Preise werden im Herbst noch einmal angehoben. Zusätzlich machen die hohen Energie- und Wohnpreise den Menschen zu schaffen. Wir sind also jetzt erst einmal am Anfang und sehen bereits, dass die untersten 10 % mit dem aktuellen Einkommen nur 66 % ihrer Ausgaben decken können. Mit Blick auf Sozialversicherungsleistungen und Sozialtransfers heißt das, dass das Niveau, wie etwa die Nettoersatzrate des Arbeitslosengeldes angehoben werden und danach eine regelmäßige Valorisierung generell bei Sozialleistungen erfolgen muss. Es geht dabei klar um die Vermeidung von Armut.

Wie sehen Sie die Auswirkungen der durchgesickerten Reformüberlegungen der Regierung hinsichtlich des degressiven Arbeitslosengeldes?

Rehbichler: Genau genommen haben wir ja schon ein degressives Arbeitslosengeld. Wir haben zuerst das Arbeitslosengeld und dann danach die Notstandshilfe. Ein rotes Tuch für uns wäre die kolportierte Herausnahme der Notstandshilfe aus der Arbeitslosenversicherung und Umwandlung in eine Fürsorgeleistung. Denn das betrifft besonders Langzeitarbeitslose, die dadurch in die Rolle von Bittstellern gedrängt würden.

Wir müssen über den Wert der Arbeit nachdenken. 

Miriam Baghdady, ÖGB

Baghdady: Ich weiß jetzt zwar nicht, was Minister Kocher mit degressiv noch zusätzlich meint, von welchem Niveau er ausgehen will, auf welchem Niveau er enden will. Aber wenn es heißt, dass danach noch weniger ausbezahlt wird, dann führt das zu noch mehr armutsgefährdeten und armen Personen. Und das darf nicht passieren. Was man bei den kolportierten Reformmaßnahmen merkt ist, dass es darum geht, Arbeitslose zu beschämen oder den Druck auf sie zu erhöhen. Das ist nicht die richtige Lösung, um eine gute Arbeitsmarktreform zu schaffen.

Rehbichler: Ich komme nochmals auf die Notstandshilfe als Fürsorgeleistung zurück. Denn was macht das mit den Menschen? Es ist etwas ganz anderes, einen Rechtsanspruch auf etwas zu haben, und eine Versicherungsleistung zu beziehen, als im Falle der Fürsorgeleistung darum bitten und nachweisen zu müssen, dass ich eh berechtigt bin, Bezüge zu erhalten. Es ist eigentlich eine Beweislastumkehr. Letztendlich wird es für viele noch schwerer, am Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen und sich zu integrieren. Die Folge: Es werden dann noch mehr Mittel benötigt, um Menschen wieder teilhaben zu lassen.

Danke für das Gespräch!

Eine Übersicht über die Arbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel in Österreich gibt es hier.

Über den/die Autor:in

Eva Winterer

Eva Winterer ist Kommunikationsstrategin und war von 2022 bis 2023 Chefin vom Dienst der Arbeit&Wirtschaft.

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