Standpunkt: Bedarf ist kein Stigma

Sonja Fercher
Chefredakteurin
Arbeit & Wirtschaft

Bedürftigkeit: Viel wird wieder über dieses Wort gestritten. Für diese müssen sich die Betroffenen ausführlich rechtfertigen, jedenfalls sollten sie sich schämen, wenn ihnen nicht gar unterstellt wird, den Sozialstaat nur auszunutzen. Nur wer auch wirklich bedürftig sei, dürfe Sozialleistungen beziehen, und zwar nur in jenem Ausmaß, das die Bedürftigkeit lindert. Wehe, die Menschen könnten auch nur ein kleines bisschen mehr bekommen.

Bedürftigkeit kommt von Bedarf

Um dieses Missverhältnis am Beispiel der Mindestsicherung zu illustrieren: „Kaum eine Leistung wird so häufig unter dem Titel Missbrauch diskutiert wie die Mindestsicherung. Dabei wird nirgends so streng kontrolliert wie hier. So sind schon beim Antrag die Kontoauszüge für mehrere Monate, allfällige Sparbücher, Bausparverträge, Lebensversicherungen und Ähnliches vorzulegen. Wer diese Auskünfte unzumutbar findet, dessen Antrag wird gleich gar nicht bearbeitet“, fasste Sybille Pirklbauer vor einem Jahr treffend zusammen. Zu diesen Hürden kommt die öffentliche Stigmatisierung.

All dem liegt ein völlig falsches Verständnis von Bedürftigkeit zugrunde. Was darin nämlich viel zu wenig vorkommt, ist der Begriff „Bedarf“, der allen Sozialleistungen zugrunde liegt. Ein Beispiel: Wer keine Arbeit hat und seinen Lebensunterhalt deshalb nicht selbst verdienen kann, hat Bedarf an Arbeitslosengeld. Das ist keine Schande, sondern oftmals eine Frage von Bildungschancen. Denn durch die Bildungsherkunft werden in Österreich sehr früh die Weichen gestellt, wohin die spätere Berufsreise geht. Diese führt jene, die nicht in den Genuss von höheren Ausbildungen gekommen sind, oftmals in Branchen, in denen es ohnehin ein großes Arbeitskräfteangebot gibt – oder in denen die Arbeitsplätze rarer werden, ob durch technische Möglichkeiten oder Auslagerungen ins Ausland. Damit haben sie ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden.

Dass es auch Menschen gibt, die den Sozialstaat ausnutzen, darf nicht als Ausrede missbraucht werden, um die vielen anderen Menschen mit Bedarf immer weiter unter Druck zu setzen. Gerade bei der Mindestsicherung gibt es ohnehin schon viele Kontrollen. Es wäre zu wünschen, dass die Regierung mindestens so viel Energie investieren würde, um Sozialbetrug an anderen Stellen effektiver zu bekämpfen. Ja, es darf sogar ein bisschen mehr Energie sein: Immerhin ein Drittel der hinterzogenen Abgaben geht in Österreich auf klassischen Abgaben- und Steuerbetrug zurück, die Hälfte geht auf das Konto der Schattenwirtschaft. Bei der Mindestsicherung etwa liegt die Zahl der Fälle, in denen sie widerrechtlich bezogen wurde, im Promillebereich.

Im Interesse aller

Sozialleistungen schützen aber nicht nur das Individuum, sondern sie sind auch von gesellschaftlichem Interesse, Stichwort Prävention von Armut und Kriminalität. Noch dazu hat der Sozialstaat dafür gesorgt, dass Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mit einem kleineren blauen Auge aus der Krise gekommen ist. Auch die Pläne zur Kürzung der Familienbeihilfe für ArbeitnehmerInnen, deren Kinder im Ausland leben, sind gelinde gesagt kurzsichtig: Diese trifft in erster Linie Pflegerinnen, und genau an diesen haben wir mangels sozialer Dienstleistungen enormen Bedarf. Wozu sollten sie weiterhin dieser Schwerarbeit nachgehen, wo sie doch genauso gut in anderen Branchen arbeiten können, in denen sie oftmals sogar noch besser bezahlt werden?

So gesehen hat auch die Gesellschaft großen Bedarf an einem funktionierenden Sozialstaat, aus dem Menschen nicht fahrlässig ausgeschlossen werden. Von daher braucht es in Österreich eine intensive Debatte über die Finanzierung des Sozialstaats. Dass darin die gerechte Besteuerung von Vermögen oder Maschinen unter „ferner liefen“ rangiert, ist schlichtweg unverständlich.

Von
Sonja Fercher
Chefredakteurin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 2/17.

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Über den/die Autor:in

Sonja Fercher

Sonja Fercher ist freie Journalistin und Moderatorin. Für ihre Coverstory im A&W Printmagazin zum Thema Start-ups erhielt sie im Juni 2018 den Journalistenpreis von Techno-Z. Sie hat in zahlreichen Medien publiziert, unter anderem in Die Zeit, Die Presse und Der Standard. Von 2002 bis 2008 war sie Politik-Redakteurin bei derStandard.at. Für ihren Blog über die französische Präsidentschaftswahl wurde sie im Jahr 2008 mit dem CNN Journalist Award - Europe ausgezeichnet.

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