Die Situation im Krankenhaus kann daher sehr schnell emotional belastend sein. Für Patient:innen genauso wie für das Pflegepersonal oder die Angehörigen. Stefan kennt die Problematik von beiden Seiten und gibt Arbeit&Wirtschaft im Interview einen Einblick in den Berufsalltag.
Harald Stefan im Interview über Arbeitsbedingungen in der Pflege
Arbeit&Wirtschaft: Welche Menschenrechtsverletzungen beziehungsweise Grenzüberschreitungen sehen Sie derzeit in der Pflege gegenüber Patient:innen?
Harald Stefan: Etwa 40 Prozent der Patient:innen sind gegen ihren Willen bei uns auf der Station. Das heißt, es gibt eine Absprache mit dem Gericht, mit der Patientenanwaltschaft und natürlich mit den behandelnden Ärzten und das bedeutet, dass wir auch die Möglichkeit haben, hier in ihre Autonomie einzugreifen, weil eine gewisse Selbst- oder Fremdgefährlichkeit vorhanden ist. Nichtsdestotrotz ist es da für uns sehr wichtig, dass wir den Menschen eine große Autonomie gewähren.
Das heißt für uns auch, dass wir offen geführte Stationen haben, dabei geht es auch sehr viel um Beziehungsarbeit. Es gibt natürlich Menschen, die wollen weg. Aber sie wollen oft nicht flüchten, sondern sie wollen in eine andere Situation, in der es ihnen besser geht. Und jetzt müssen wir eine Situation schaffen, in der sie sich angenommen fühlen, wo sie Respekt und Wertschätzung erfahren, und dann wird ihr Drang wegzuwollen nicht so stark sein, sondern sie werden uns vertrauen. Es geht um Sicherheit für alle Beteiligten. Und da ist es wichtig, dass wir Sicherheit für das Personal, aber auch die Patient:innen herstellen.
Wenn Sie aber ansprechen, dass keine Privatkleidung gegeben wird, dann sind das für mich so fragliche Dinge, nämlich, was soll da an Sicherheit erhöht werden? Ich denke mir, dass man sich das genauer anschauen muss, weil auch das ist ein Freiheitsentzug. Und das Abendessen um 16.30 Uhr zu richten, da muss man dahinterschauen, warum wird das gemacht? Weil vielleicht das Personal fehlt, weil einfach die Zeitsequenzen vom Personal, das verfügbar ist, nicht so gelagert sind, dass man gesichert ein Abendessen bereiten kann? Dann gehört das aber vom Organisatorischen her umorientiert, und ich denke mir, das ist nicht den Bedürfnissen der Menschen entsprechend.
Weil Sie auch sagen: Wo gibt es Verletzungen, nämlich der Freiheit oder der Menschenrechte? Die Menschenrechte sind ja sehr breit, das reicht von Sklaverei über Folter bis zu Autonomiesicherheit. Die Menschenrechte sollen für alle, die in einem Bereich arbeiten, eingehalten werden – sowohl für die Mitarbeiter:innen wie auch für die Bewohner:innen und Patient:innen. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass auch die Führung und das Management ganz besonders gefordert sind, dort hinzuschauen. Gerade in der westlichen Welt und in Österreich, wo wir ein Gesundheitssystem haben, das sehr ausgeprägt ist, müssen wir uns damit auseinandersetzen und das nicht ständig als Kritik sehen, wo ich etwas abwehren muss, sondern wo ich überlege, wie kann ich Situationen verändern.
Aus Patient:innensicht sind wir diejenigen, die Gewalt ausüben, und aus unserer Sicht wehrt sich der Patient gegen eine Behandlung, die er nicht will.
Harald Stefan, Leiter des Bereichs Pflege
der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Landstraße
Sie haben nun das Spannungsfeld gerade auf einer psychiatrischen Station angesprochen, wo auch Leute betreut werden, die gegen ihren Willen dort sind. Kommt es da dann auch häufiger zu Übergriffen seitens der Patient:innen gegenüber den Pflegekräften?
Aus Patient:innensicht sind wir diejenigen, die Gewalt ausüben, und aus unserer Sicht wehrt sich der Patient gegen eine Behandlung, die er nicht will. Das ist immer ein sehr schwieriger Spagat. Darum ist es für mich besonders wichtig, wie man mit diesen Situationen umgeht. Welche Kenntnisse habe ich, um etwas zu deeskalieren statt es zu eskalieren?
Ich habe 1982 begonnen, in der Psychiatrie zu arbeiten. Damals hat es auch Aggression und Gewalt durch Patient:innen gegeben – es wurde aber nicht darüber geredet. Das war Teil des Jobs. Nach bestem Wissen und Gewissen hat man versucht, damit umzugehen, sodass man selbst nicht verletzt worden ist und dass Patient:innen nicht verletzt worden sind. Es war nicht Teil der Ausbildung, mit solchen Situationen umzugehen. Die Ausbildung war sehr medizinisch orientiert, es ging um Pflege, die Aktivitäten des täglichen Lebens, ums Waschen, Kleiden, Sauber-Halten, aber Dinge wie Aggression, Gewalt, Angst, Sicherheit wurden nicht thematisiert.
2003 war ich auf einem Kongress in Berlin, es ging um Pflegediagnostik. Dort habe ich Nico Oud kennengelernt, er hat Konzepte zum Umgang mit Gewalt in Psychiatrien von Großbritannien nach Holland gebracht. Er hat mich gefragt: Wie ist eure Haltung zu Aggression und Gewalt? Und ich habe nicht einmal das Wort Haltung verstanden, sondern ich habe verstanden, wie halten wir, wenn jemand aggressiv wird. Ich habe geantwortet, wir schauen, dass wir bestmöglich niemanden verletzen. Und dann hat er zu mir gesagt, er meine nicht das Halten, er meint unsere Haltung.
Das war für mich ein ganz neuer Aspekt. Oud bildete damals schon Trainer:innen in der Schweiz, Deutschland und Holland aus, es ging ihm darum, in der Organisation Trainer:innen zu etablieren, die dann das Programm so adaptieren, dass sie ihre eigenen Mitarbeiter:innen schulen können. Und da geht es sehr stark um Geisteshaltung, um die Herangehensweise. Das war für mich ein totaler Paradigmenwechsel, nämlich darüber nachzudenken, warum entsteht die Aggression, woher kommt das und welchen Anteil haben wir selbst auch dran.