Historie: Warnung an die Gäste anno 1919 – Achtung Ansteckungsgefahr!

Unterkunft von Kellnerlehrlingen am Dachboden eines Gasthauses vor dem Ersten Weltkrieg – keine Ausnahme von der Regel, auch nachdem das „Flohkisterl“ ausgedient hatte.
(C) Archiv der Gewerkschaft vida.
Gastronomiebeschäftigte hatten schon immer gefährliche und belastende Arbeitsbedingungen – umso mehr in Zeiten von Epidemien. Der Gewerkschaftskampf um soziale Verbesserungen war und ist deshalb immer auch ein Kampf um Gesundheit und Lebenschancen.
Man schrieb das Jahr 1920. Die Pandemie, damals die „Spanische Grippe“, war vorbei. Dagegen grassierte die höchst ansteckende und tödliche Schwindsucht, die „Wiener Krankheit“ Lungentuberkulose, unvermindert weiter. Sie hatte die Grenzen der Arme-Leute-Viertel längst überschritten, obwohl sie dort nach wie vor die meisten Opfer fand. Auch der Einsatz der ersten Impfstoffe nützte angesichts der Wohnverhältnisse wenig. 1919 hatten in der Bundeshauptstadt nur acht Prozent aller Wohnungen ein eigenes WC und nur fünf Prozent Fließwasser, 73 Prozent höchstens 28 Quadratmeter. Zusätzlich besonders gefährdet waren aber Menschen, die unter noch schlechteren Bedingungen wohnen, leben und arbeiten mussten, wie die Beschäftigten im Gast- und Schankgewerbe. Ein Gewerkschaftsflugblatt schilderte ihre Wohn- und Arbeitssituation drastisch, als eine Kampagne für das Einhalten des vereinbarten, aber in der Praxis kaum zugestandenen wöchentlichen Ruhetags gestartet wurde: „Sie müssen täglich 14 bis 20 Stunden in rauchigen und staubigen Lokalen schwere Arbeit verrichten, sie haben keine Zeit zur Pflege und Erholung nach der Arbeit. Vier Stunden nach dem Verlassen des Betriebes müssen sie wieder roboten, trotzdem sie nahezu nicht geschlafen haben, denn schlafen in den verwanzten, schmutzigen Löchern ist unmöglich.“

Es liege deshalb im Eigeninteresse des „Publikums“, die Forderung nach dem Einhalten des vereinbarten Ruhetags zu unterstützen.

Da hatte sich in den Anfangsjahren der Republik gegenüber den Zuständen zu Kaisers Zeiten noch nicht viel ändern können, die Rechtsverbindlichkeit von Kollektivverträgen galt ja erst ab 1920. Das „Flohkisterl“ in den Gaststuben, eine aufklappbare Sitzbank als Schlafplatz für Kellner und Lehrlinge, gehörte zwar dank dem Eingreifen der Gewerkschaft der Vergangenheit an, die Gesundheitsstatistik des Jahres 1904 hatte dagegen erschreckende Aktualität: 1904 registrierten allein die drei Wiener gastgewerblichen Krankenkassen 159 Sterbefälle, bei 83 davon war die Todesursache Tuberkulose. Die fehlende Zeit für Körperpflege und Erholung sei, so die Gewerkschaft, die Hauptursache für diesen hohen Anteil an Schwindsüchtigen unter den Gastrobeschäftigten, die Lokale würden dadurch zu Hotspots der Ansteckung und auch die Gäste in hohem Maß gefährdet. Es liege deshalb im Eigeninteresse des „Publikums“, die Forderung nach dem Einhalten des vereinbarten Ruhetags zu unterstützen. Die große Zahl an kleinen, weit verstreuten Betrieben in der Branche erleichterte aber weiter die Umgehung der Arbeitszeit- und Arbeitnehmer:innenschutz-Vereinbarungen.

Plakat der Stadtverwaltung des „Roten Wien“ mit Information über die Tbc-Verbreitung und dem Aufruf zum Einhalten von Schutzmaßnahmen, vor allem Hygiene und ärztlicher Kontrolle.

Die gesundheitliche Belastung der Gastrobeschäftigten blieb unter diesen Umständen überdurchschnittlich hoch, auch als die Lungentuberkulose vor allem durch die Gesundheits- und Wohnbaupolitik des „Roten Wien“ als Volkskrankheit zurückgedrängt und in der Zweiten Republik mithilfe einer Impfkampagne praktisch ausgerottet worden war. Das belegten 1993 die Ergebnisse einer Studie über die Arbeitsbedingungen in der niederösterreichischen Gastronomie: Fußschmerzen, Rheuma, Herz- und Lungenbeschwerden, Krampfadern, Bandscheibenschäden und Erkrankungen des zentralen Nervensystems waren die Hauptbeschwerden. Die Studie hatte den Zweck, den damals wie 2021 weit verbreiteten und von den Medien unterstrichenen Klagen der Arbeitgeber:innen über die „Flucht aus der Branche“ die Realität entgegenzustellen und die Berechtigung der Gewerkschaftsforderungen zu unterstreichen. Kein Wunder, stellte die HGPD (Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe, Persönlicher Dienst, seit 2006 Teil der Gewerkschaft vida) fest, dass eine Arbeit mit solchen gesundheitlichen Folgen alles andere als attraktiv sei. Qualifiziertes Personal werde nur dann ausreichend zu finden sein, wenn die Ausbildung verbessert werde, die Bedürfnisse der Arbeitnehmer:innen am Arbeitsplatz Berücksichtigung finden, eine bessere arbeitsmedizinische Betreuung gegeben sei und ein Kündigungsschutz für ältere Kolleg:innen eingeführt werde.

Das Geschichtsinstitut in der AK Wien betreut das größte AK- und Gewerkschaftsarchiv Österreichs und baut seine Sammlungen laufend aus. Sollten Sie, liebe A&W-Leser:innen, interessante Dokumente, Fotos, CDs, DVDs besitzen oder kennen, wäre es schön, wenn Sie mit den Kolleg:innen unter der E-Mail-Adresse office@ihsf.at Kontakt aufnehmen würden.
Nähere Informationen zum Institut für historische Sozialforschung/IHSF und seinen Projekten unter https://ihsf.at.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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