Probleme der Arbeitslosenversicherung
Statt hier anzusetzen und daran zu arbeiten, wird die Verantwortung jedoch individualisiert und auf die arbeitslosen Personen geschoben. Vorurteile wie „nicht leistungsfähig genug“, „zu faul“, „nicht ausreichend ausgebildet“ oder „zu wenig Engagement bei der Jobsuche“ machen sich breit. Sie kreieren das Bild einer „sozialen Hängematte“. Diese Argumentation, die Individuen verantwortlich macht, obwohl es nachweislich nicht genügend Stellen für alle gibt, ist zwar nicht haltbar, dominiert jedoch trotzdem seit vielen Jahren. Fakt ist, „die Arbeitslosigkeit ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, wie Arbeitsmarktexperte Gernot Mitter betont. So sind 900.000 bis eine Million Betroffene einmal pro Jahr arbeitslos. Und entgegen der Stigmatisierung wollen Arbeitslose einen guten und fair bezahlten Job finden.
Eine fortschrittliche Arbeitsminister:in würde Arbeitslosenversicherung so reformieren, dass Betriebe, die besonders oft kündigen u Beschäftigte in Stehzeiten ans AMS auslagern, höhere ALV-Beiträge zahlen. Das würde Anreizstrukturen erheblich verbessern.https://t.co/D8sf2ytmHD
— Markus Marterbauer (@MarterbauerM) June 12, 2022
Denn erwerbsarbeitslos zu sein, ist keineswegs ein Zuckerschlecken. Wenig Geld und sehr restriktive Zumutbarkeitsbestimmungen diktieren den Alltag. Aktuell wird zudem ein degressives Arbeitslosengeldmodell diskutiert, bei dem die Versicherungsleistungen für Arbeitslose im Zeitverlauf abnehmen sollen. Wie dies genau gestaltet sein soll, ist aktuell noch nicht klar. Doch im EU-Vergleich ist die Nettoersatzrate von 55 Prozent des letzten Gehalts in Österreich ohnehin schon sehr niedrig. Da sind sich Arbeiterkammer und Gewerkschaftsbund einig. Ein degressives Modell kann es nur dann geben, wenn das auch bedeutet, dass Arbeitslose am Anfang ihrer Arbeitslosigkeit mehr Geld bekommen. Und am Ende nicht weniger als die aktuellen 55 Prozent vorgesehen sind.
Höheres Arbeitslosengeld
Laut AK-Experte Gernot Mitter gibt es jedoch keine empirischen Beweise dafür, dass ein degressives Modell dazu führt, dass Arbeitslose schneller einen Job finden. Im Gegenteil, es sprechen sogar einige Argumente dagegen. Was es stattdessen braucht, ist eine gute Absicherung für Arbeitslose sowie die Möglichkeit, tatsächlich einen guten und fair bezahlten Job zu finden. Um dies zu erreichen, muss sich einiges verändern.
Die Arbeitslosenversicherung in Österreich liegt mit 55 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Zahlen zeigen, dass das durchschnittliche Arbeitslosengeld 2019 bei circa 894 Euro lag (mit einem Tagessatz von 32,81 Euro). Das ist deutlich unter der Armutsgrenze von 1.286 Euro. Um das Armutsrisiko von Erwerbslosen zu verringern, braucht es laut Mitter eine durchgehende Nettoersatzrate von 70 Prozent – und das ohne Absinken im Zeitverlauf. Nur so könne eine armutsfeste Versicherungsleistung garantiert werden.
Moderne Zumutbarkeitsbestimmungen
Sieht man sich die Zumutbarkeitsbestimmungen und Sanktionsmöglichkeiten innerhalb des Arbeitslosenversicherungsgesetzes an, wird schnell klar, welcher Druck auf den Arbeitslosen liegt. Birgit Sdoutz und Regina Zechner zählen in ihrem A&W-Blogbeitrag „Lücken und Tücken der Arbeitslosenversicherung für Arbeitnehmer:innen“ nur einige der vielen Beispiele auf, die diese Situation verdeutlichen.
Zuvor waren es noch zwei Stunden Wegzeit zur Arbeit für die Hin- und Rückfahrt bei Vollzeitbeschäftigung, die als zumutbar galten. Doch der Verwaltungsgerichtshof hat dies in seiner Rechtsprechung auf drei Stunden ausgedehnt, weil aus seiner Sicht erst darüber eine wesentliche Überschreitung vorliegt. Ebenso zumutbar sei eine Beschäftigung in einem anderen Bundesland, wenn am Arbeitsort eine Unterkunft zur Verfügung steht und keine Betreuungspflichten bestehen. Welchen Standards die Unterkunft zu entsprechen hat oder ob diese kostenlos zur Verfügung gestellt wird, spielt keine Rolle.
Arbeitslose brauchen ein Wahlrecht
Zudem herrsche ein striktes Sanktionsregime, so Sdoutz und Zechner. „Bereits Kleinigkeiten führen dabei zu einer 6- oder 8-wöchigen Sperre des Arbeitslosengeldes. Eine irrtümlich an die falsche E-Mail-Adresse verschickte Bewerbung. Ein ungeschickter Hinweis auf Betreuungspflichten für Angehörige. Oder eine laufende Ausbildung im Bewerbungsgespräch oder Bewerbungsschreiben. Auch die Beantwortung der Frage eines Vorarlberger Hoteliers, ob man als in Wien lebende Arbeitsuchende nicht lieber in Wien arbeiten würde, mit ‚eigentlich ja‘ – all das wird in der Rechtsprechung als vorsätzliche Vereitlungshandlung beurteilt. Und führt zu einem temporären Verlust des Arbeitslosengeldes.“
„Die Darstellung, dass Arbeitsuchende Beschäftigungen ablehnen können und somit ein Wahlrecht haben, ist schlicht falsch und entspricht weder der Gesetzeslage und Rechtsprechung noch der Verwaltungspraxis des AMS“, betonen die beiden AK-Expertinnen.
Die derzeitigen Zumutbarkeitsbestimmungen können rasch zu einem Schaufelrad in Niedriglohnjobs werden.
Gernot Mitter, Arbeitsmarktexperte der Arbeiterkammer
Gefangen im Niedriglohnsektor
„Die derzeitigen Zumutbarkeitsbestimmungen können rasch zu einem Schaufelrad in Niedriglohnjobs werden“, warnt Mitter. In einer solchen Situation müssen Arbeitslose förmlich jeden Job annehmen. Egal welches Lohnniveau sie zuvor hatten oder über welche Ausbildungen sie verfügen. Ein degressives Modell fördert diesen Druck zusätzlich. Stattdessen sollte es eigentlich so sein, dass Menschen nach ihrer Arbeitslosigkeit wieder auf dem Lohnniveau vor der Arbeitslosigkeit anknüpfen können. Sie sollten keinen Einbruch in ihrer Erwerbskarriere hinnehmen müssen.