Eine Welt ohne Obdachlosigkeit: Wohnen als Menschenrecht

Illustration (C) Miriam Mone
Jede Nacht sind 700.000 Menschen in der Europäischen Union ohne Obdach. Eine hohe Zahl auf einem großteils reichen Kontinent. Vor zehn Jahren waren es noch 70 Prozent weniger. Die EU will nun bis 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit eindämmen.
Wohnungslose Männer sterben im Durchschnitt 20 Jahre früher, das wurde statistisch festgestellt. Diese Gefahr ist für viele Menschen in Österreich und der EU bittere Realität. Eine frauenspezifische Wohnungslosigkeit wird bislang nicht erfasst, daher gibt es keine Zahlen zu deren Lebenserwartung. Laut Statistik Austria waren in den vergangenen Jahren über 21.000 Personen in Österreich als wohnungslos registriert. Ungefähr so viele, wie die Stadt Lustenau Einwohner*innen hat. Seit der Finanzkrise 2008/09 ist diese Zahl um 30 Prozent angewachsen. In den Niederlanden ist der Zuwachs sogar noch extremer: plus 121 Prozent Personen haben seit damals ihre Wohnung verloren.

Zur Schärfung der Begriffe unterscheidet die NGO European Federation of National Organisations Working with the Homeless (FEANTSA) in ihrer europäischen Typologie Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit und prekäre Wohnversorgung. Unter Obdachlosigkeit versteht man obdachlose Menschen und solche, die in Notschlafstellen und Wärmestuben die Nächte oder kalte Wintertage verbringen. Wohnungslos ist man hingegen, wenn man in Wohneinrichtungen wie Übergangswohnheimen oder Asylheimen lebt, in Frauenhäusern Zuflucht sucht, aber auch ein Leben in Gefängnissen, Strafanstalten oder Jugendheimen fällt darunter.

Gründe für Obdachlosigkeit gibt es viele. Die Hauptauslöser, dass jemand aus seiner Wohnung muss, sind in den meisten Fällen Miet- und Energieschulden, eine Trennung, Konflikte im Wohnungsumfeld oder der Verlust der Arbeitsstelle. „Durch COVID-19 und die Auswirkungen sind in der EU große Diskussionen ausgebrochen, was die Arbeitslosigkeit in der Folge der Wirtschaftskrise betrifft“, sagt der sozialdemokratische EU-Parlamentarier Andreas Schieder. „Arbeitslosigkeit ist auch ein zentraler Punkt, wenn es um Obdachlosigkeit geht. Wir haben besonders bei Frauen und Migrant*innen gesehen, dass die Zahl an Menschen ohne Wohnung ansteigt. Deshalb braucht es leistbares Wohnen, um das Problem in den Griff zu bekommen.“

Ein neoliberaler Wohnungsmarkt trägt dazu bei, dass die Mietpreise ständig steigen. In Deutschland beispielsweise hat sich in den vergangenen 15 Jahren der Bestand an Sozialwohnungen beinahe halbiert – von 2,03 Millionen auf 1,13 Millionen. Trotz der Pandemie und der damit einhergehenden (finanziellen) Folgen hat in Deutschland allein im Jahr 2020 die Zahl an leistbaren Wohnungen um 26.000 abgenommen. Dabei ist gerade der soziale Wohnbau wichtig, um Menschen mit geringeren Einkommen ein würdiges Leben zu ermöglichen.

„Während die Bruttomieten seit 2008 um 41 Prozent angestiegen sind, ist das monatliche Median-Haushaltseinkommen im selben Zeitraum nur um 32,5 Prozent gewachsen“, erklärt Sozialreferentin Sina Moussa-Lipp von der AK Wien. „Bei privaten Neuvermietungen sind zwei von drei Verträgen befristet. Mit diesen Entwicklungen ist es zunehmend schwieriger für Menschen mit geringen Einkommen, eine leistbare Wohnung zu finden“, meint die Expertin. In einem starken Sozialstaat muss Wohnen leistbar sein, nur so kann man Obdachlosigkeit bestmöglich eindämmen.

Aktionsplan gegen Obdachlosigkeit

Im Juni trafen sich die europäischen Gesundheits- und Sozialminister*innen im portugiesischen Porto zum Sozialgipfel, um unter anderem eine Strategie gegen die Obdachlosigkeit in Europa bis 2030 zu beschließen. Mitgliedsstaaten, Städte und Dienstanbieter sollen beim Aus¬tausch von bewährten Verfahren und der Identifizierung effizienter und innovativer Ansätze unterstützt werden, wie es im Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte heißt. Des Weiteren wird vonseiten der EU an Leitfäden zur Vergabe öffentlicher Aufträge gearbeitet. „Eine wichtige Aufgabe ist die sozial verantwortliche Vergabe öffentlicher Aufträge in Bezug auf die Obdachlosigkeit. Unternehmen sollen motiviert werden, obdachlosen Menschen eine Chance zu geben und sie anzustellen. Die Betriebe müssen sich allerdings rücksichtsvoll zeigen und den Personen Zeit geben, dass sie sich einarbeiten können“, sagt Schieder.

In einem starken
Sozialstaat muss Wohnen leistbar sein,
nur so kann man Obdachlosigkeit
eindämmen.

„Housing First“ als Erfolgsmodell

Wie in vielen Fragen ist die Europäische Union auch in der Frage der Bekämpfung von Obdachlosigkeit kein monolithischer Block. Unterschiedlichste Ansätze gibt es bereits jetzt. Und leider auch Negativbeispiele, wie inhuman gegen Menschen ohne festen Wohnsitz vorgegangen wird. In Ungarn drohen Obdachlosen beispielsweise seit 2018 Strafen. Damals schuf man ein Gesetz „gegen das Leben auf der Straße“. Anstatt staatliche Hilfe anzubieten, kriminalisiert der Staat seine Bürger*innen. „Die Zeit“ berichtete von einem Mann, der auf einer Parkbank der Kleinstadt Gödöllő bei Budapest schlief, festgenommen wurde und sich anschließend vor Gericht für seine „Straftat“ verantworten musste.

Als positives Gegenbeispiel kann Finnland genannt werden. Dort bedient man sich des „Housing First“-Ansatzes. „Housing First“ bedeutet nichts anderes, als dass jemand zuerst eine Wohnung haben muss, um sich dann den anderen Problemen des Lebens widmen zu können. Und dieses Konzept ist sehr erfolgreich, wie offizielle Zahlen belegen. „Notunterkünfte allein sind nicht die Lösung und auch kein Weg aus der Armut. Man sollte vermehrt auf „Housing First“ setzen; also traditionelle Wege verlassen und sich erst darum kümmern, dass Menschen eine bezahlbare Wohnung zur Verfügung haben“, so Schieder.

Finnland ist in der EU das einzige Land, in dem seit 2015 die Obdachlosigkeit abgenommen hat. 32 Prozent weniger Menschen leben inzwischen seit damals auf der Straße. 7.800 Wohnungen stehen in dem skandinavischen Land für „Housing First“ zur Verfügung. Sollten sich die Bewohner*innen die Miete von ihrer Rente oder ihrem Gehalt nicht leisten können, unterstützt der Staat sie dabei und übernimmt die Kosten.

Hierzulande schlägt man nun einen ähnlichen Weg ein. Mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) will der Staat Österreich bis 2025 25.000 Wohnungen für „Housing First“ zur Verfügung stellen. „Die BAWO leistet in diesem Bereich hervorragende Arbeit – auch wir als Arbeiterkammer sowie Mietervereinigung und eine Reihe an Sozialorganisationen setzen uns bereits seit längerer Zeit für einen Ausbau von ,Housing Firstʻ ein – Lösungsvorschläge, wie Obdachlosigkeit beendet werden kann, liegen also schon seit einiger Zeit auf dem Tisch“, meint auch Moussa-Lipp. „Weitere 25.000 Wohnungen österreichweit in den nächsten Jahren für ,Housing Firstʻ zur Verfügung zu stellen, halte ich durchaus für ein realistisches und sehr erstrebenswertes Ziel.“

Über den/die Autor:in

Stefan Mayer

Stefan Mayer arbeitete viele Jahre in der Privatwirtschaft, ehe er mit Anfang 30 Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren begann. Er schreibt für unterschiedliche Publikationen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Sport.

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