Als Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris am 20. Jänner angelobt wurden, ging so etwas wie ein Aufatmen durch die Welt, aber weniger, weil die Neuen eingezogen, sondern weil der alte Präsident weg war. Nach dem gemeingefährlichen Spinner Trump erwartete man Normalität, aber auch nichts Großes. Seit fünfzig Jahren ist Joe Biden schon in der Spitzenpolitik dabei, als Heißsporn war er nie aufgefallen. Donald Trump hat ihn als „Sleepy Joe“ verspottet, und die jungen Linken in der Demokratischen Partei und den lose mit ihr verbündeten Bürgerrechts- und Basisbewegungen begeisterten sich für ihre eigenen politischen Frontfiguren, etwa für Bernie Sanders oder die packende Kongressabgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez. Aber Biden? Mit ihm wird die US-Politik wieder langweilig, war die allgemeine Erwartung, und das ist nach dem nervenzerfetzenden Extremisten Trump auch schon etwas.
Auch die meisten politisch interessierten Beobachter*innen in Europa schauten da nicht mehr täglich so genau hin.
Politisch-philosophische Revolution
Erst langsam sickert es: Was die neue US-Regierung an politischem Kurswechsel hinlegt, ist der vielleicht bemerkenswerteste Paradigmenwandel seit mehr als vierzig Jahren. Eine kleine politisch-philosophische Revolution.
Die Mittelklasse schuf Amerika. Aber die Gewerkschaften schufen die Mittelklasse.
Joe Biden, US-amerikanischer Präsident
Kürzlich hielt Biden seine erste große „State of the Union“-Ansprache, die jährliche Rede des jeweiligen Präsidenten zur Lage der Nation. Schluss müsse sein mit den Privilegien für die Reichen und dem Märchen, wenn man nur die Wirtschaft entfessle und den Unternehmer*innen „Bereichert euch!“ zurufe, werde der Wohlstand schon zu den normalen Menschen durchsickern. „Trickle-down-Economics haben nie funktioniert und werden nie funktionieren“, erklärte Biden. „Von unten und aus der Mitte“ müsse das Land wieder aufgerichtet werden. „Die Mittelklasse schuf Amerika. Aber die Gewerkschaften schufen die Mittelklasse.“
Biden hatte unmittelbar nach Amtsantritt Dutzende „Executive Orders“ erlassen (also Präsidentenverordnungen) und erste große Konjunkturprogramme verabschiedet. 1,9 Billionen Dollar schwer ist das Notprogramm, das die Konjunktur stützen soll: Alle Amerikaner und Amerikanerinnen, die weniger als 75.000 Dollar jährlich verdienen, erhalten einen 1.400-Dollar-Scheck zugeschickt (Ehepaare, die gemeinsam einreichen, wenn ihr Haushaltseinkommen 150.000 Dollar nicht übersteigt). Es gibt höhere Arbeitslosenhilfen, Steuernachlässe und Hilfen für Bundesstaaten und Kommunen. All das soll als Kickstart aus der (post-)pandemischen Krise helfen.
Schon skizziert die Biden-Regierung ihre Gesetzesvorhaben für die kommenden Jahre. Einen „American Jobs Plan“, der 2,3 Billionen Dollar im Laufe der nächsten acht Jahre mobilisieren soll. 1,3 Billionen Dollar sollen in die kommunale und die Verkehrsinfrastruktur, in Stromnetze und Klimatechnologie gepumpt werden, was Millionen normale, sichere Jobs schaffen soll. 580 Milliarden Dollar sollen direkt in Re-Industrialisierung und Forschung für Zukunftstechnologien fließen. 400 Milliarden Dollar in die Pflege und Ähnliches. Und darüber hinaus sind noch einmal 1,8 Billionen Dollar für den „American Families Plan“ kalkuliert, der Kinderbetreuung, bezahlte Elternzeit, Kindergärten und Ähnliches vorsieht. Sogar für eine globale Mindestbesteuerung für Konzerne will sich Biden starkmachen, damit endlich Steuerdumping aufhört.
Ambitioniertester Plan seit Amerikas „New Deal“
Ein großer Wumms. „Der Präsident Biden ist progressiver, als es Senator Biden je war“, staunt die Hamburger „Zeit“, und schon wird Biden mit den großen linken Reformpräsidenten wie Franklin D. Roosevelt oder Lyndon B. Johnson verglichen und sein Programm als ambitioniertester Plan seit dem „New Deal“ gefeiert , also jenem „New Deal“, der seinerzeit die verarmte Arbeiterklasse in die breite, stabile Mittelschicht hob.
Schon wird Biden mit den großen linken Reformpräsidenten wie Franklin D. Roosevelt oder Lyndon B. Johnson verglichen und sein Programm als ambitioniertester Plan seit dem „New Deal“ gefeiert.
Sowohl die aktuelle Krisenlage als auch die politischen Verschiebungen der vergangenen Jahre eröffnen eine Art „Fenster der Möglichkeiten“, wie man jetzt sieht. Die Pandemie macht massive staatliche Intervention sowieso notwendig. Donald Trump hatte so hohe Budgetdefizite angehäuft, dass die übliche konservative Kritik an „linker Schuldenpolitik“ im Augenblick eher lächerlich wirken würde. Und die demokratische Parteibasis ist nach links gerückt, prononciert progressive Politikerinnen und Politiker sind zu nationalen Politik-Stars geworden. Mit Joe Biden wurde zwar ein Mann der Mitte Präsident, aber er muss den linkeren Wünschen seiner Anhänger*innen Rechnung tragen.
Joe Biden wirbt in normalen, verständlichen Worten für das progressive Programm, also auf eine Weise, die auch jene erreicht, die noch nicht überzeugt, aber gewinnbar sind.
Eine perfekte Konstellation, wie manche meinen: Würden ausgewiesene Linke sozialdemokratische Politik machen, würden die konservativen Rechten gegen „die Sozialisten“ mobilmachen können. Bei einem versöhnlichen Mittelwegsgefährten wie Joe Biden ist das aber schwer möglich. Der wirkt nicht nur wie ein Opi, vor dem niemand Angst haben muss, sondern er wirbt in normalen, verständlichen Worten für das progressive Programm, also auf eine Weise, die auch jene erreicht, die noch nicht überzeugt, aber gewinnbar sind.
Auch in den Basisbewegungen und den linken Zirkeln ist man von Biden positiv überrascht, die Reserviertheit, mit der man ihm hier zunächst begegnete, ist deutlicher Sympathie gewichen. Dabei gibt es genügend Debatten innerhalb des demokratischen Milieus und insbesondere über Größe und Wirkung der Wirtschaftspläne.
Lawrence Summers, der ehemalige Finanzminister der Clinton-Regierung – gewissermaßen der ideologische Anführer der konzernfreundlichen Linksliberalen – warnt, vor allem das 1,9-Billionen-Dollar-Konjunkturprogramm könne die Wirtschaft sogar überhitzen und Inflation auslösen. Dabei ist selbst Summers kein Gegner massiver Programme, meint aber: Das Konjunkturprogramm beinhalte kaum Investitionen, pumpe nur Geld in den Konsum. Dabei wären langfristige Investitionen viel notwendiger. Die langfristigen Investitionsprogramme könnten aber zu gering ausfallen, während das „Stimulierungs-Programm“ zu groß sein könnte. Zumindest in diesem Punkt treffen sich Summers und die prononcierten Linken. „Der Umfang des Infrastruktur-Programms ist enttäuschend“, sagt Alexandria Ocasio-Cortez. „Es ist nicht genug.“
Auch der progressive Wirtschaftsprofessor Adam Tooze von der Columbia-University bläst in dieses Horn: Was Biden für den Umbau der Wirtschaft zum Kampf gegen eine Klimakatastrophe investieren wolle, klinge in absoluten Zahlen astronomisch, letztendlich summiere es sich aber nur auf jährlich 0,5 Prozent des US-BIPs – und sei damit „viel zu klein“. Es müsste eigentlich das Zehnfache ausmachen, so Tooze.
Stephanie Kelton, Bestsellerautorin, Wirtschaftstheoretikerin und Vordenkerin der neuen Schule der „Modern Monetary Theory“, stimmt sowieso ein.
Bidenomics vs. Reaganomics
All das sind keine vereinzelten Stimmen, und sie zeigen, dass „Bidenomics“ – als progressives Gegenstück zu „Reaganomics“, also einem Paradigmenwechsel in der wirtschaftstheoretischen Debattenwelt – auf einem soliden Fundament steht. Der wirtschaftspolitische Mainstream selbst ist in den vergangenen zehn Jahren massiv nach links gerückt. Die Gründe dafür sind etwa die Finanzkrise, die Fehler, die in den vergangenen Jahren gemacht wurden, der Wohlstandsverfall der normalen Mittel- und Arbeiterklasse und die „fortdauernde Stagnation“ der US-Wirtschaft (Summers). Dass der Neoliberalismus abgewirtschaftet hat, ist heute kaum mehr übersehbar, und das hat mittlerweile auch Auswirkungen in der akademischen Ökonomie. Eine neue Generation progressiver Ökonominnen und Ökonomen steht nicht mehr am Rand, sondern sie bestimmt zunehmend die wirtschaftspolitischen Diskussionen. „Hinter Bidens Wirtschaftsplänen“, so das „Wall Street Journal“, stehe eine neue Generation und ein neuer „linkerer“ Konsens. Finanzministerin Janet Yellen ist die Verkörperung dieses Wandels.
Wie sehr werden die Republikaner bremsen?
Gewiss, der schwierigste Teil steht erst bevor. Sein Konjunkturprogramm konnte Biden durch Verfahrenstricks durchboxen, mit seinen langfristigen Plänen wird das schwieriger – die Republikaner im Senat können ihn massiv bremsen. Das wird ein regelrechter Kleinkrieg bis mindestens zu den Midterm-Wahlen 2022. Da Bidens Pläne populär sind, hat er zwei Möglichkeiten: Entweder er bringt die Republikaner dazu, seinen Plänen zuzustimmen, oder er muss darauf setzen, bei den Kongresswahlen eine deutliche Mehrheit zu gewinnen. Spaziergang wird beides nicht, aber mit Geschick kann es gelingen, vor allem dann, wenn Wähler*innen aus den arbeitenden Klassen aus der amerikanischen Provinz massiv zurückgewonnen werden können.
Joe Biden gibt linken Parteien auf der ganzen Welt Meisterklassen-Unterricht, wie man die Macht nützt.
The Guardian
Jedenfalls: Biden handelt – mit Mut und Elan. Linke Aktivist*innen und progressive Wissenschafter*innen bereiteten den Boden, aber es ist Präsident Joe Biden, der die Stunde nützt. „Joe Biden gibt linken Parteien auf der ganzen Welt Meisterklassen-Unterricht, wie man die Macht nützt“, zeigt sich der britische „Guardian“ beeindruckt.