Insolvenzen: Tag der Abrechnung

Trotz historischer Wirtschaftskrise durch eine globale Pandemie melden nur wenige Firmen Konkurs an. Kein Wunder. Die Insolvenzantragspflicht ist ausgesetzt. Doch allerspätestens am Jahresende kommt sie zurück. Explodieren dann die Zahlen von Insolvenzen und Arbeitslosigkeit? Ja und nein. Eine Übersicht.
Firmenpleiten funktionieren nicht wie im Film. Es gibt selten einen dramatischen, alles entscheidenden Moment, der innerhalb von Sekunden über Untergang oder Fortbestand entscheidet. Es sind auch nicht Banken oder Geschäftspartner*innen, die Unternehmen zum Konkurs zwingen. Firmen gehen über einen langen Zeitraum pleite. Bis sie irgendwann ihre Steuern oder Sozialabgaben nicht mehr bezahlen können. Statistisch betrachtet stellen in Österreich Finanzämter und die Gesundheitskassen rund die Hälfte der Insolvenzanträge. Theoretisch.

Praktisch tun sie genau das aktuell nicht. Das hat mit den Staatshilfen der Regierung in der Corona-Pandemie zu tun. Zum einen können Finanzämter und Gesundheitskassen aktuell keine Insolvenzanträge stellen, und zum anderen sind die entsprechenden Abgaben gestundet – nicht erlassen, wohlgemerkt. Wie lange dieser finanzielle Burgfrieden bestehen bleibt, ist aktuell unklar. Als wahrscheinlich gilt eine Verlängerung der Aufhebung der Insolvenzantragspflicht bis zum 30. Juni 2021, verrät Christa Schlager, Leiterin der wirtschaftspolitischen Abteilung der Arbeiterkammer, im Gespräch mit Arbeit&Wirtschaft. Auch eine Verlängerung bis Jahresende wäre im Rahmen der Vorgaben der Europäischen Union.

Es gibt Expert*innen, die mit dem Auslaufen dieser Maßnahme eine Pleitewelle erwarten. Das hat seine Gründe. In einem normalen Jahr gebe es in Österreich rund 5.000 Unternehmenspleiten, erklärt Atanas Pekanov, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO). Im großen Krisenjahr 2020 waren es allerdings nur 3.100. „Diese Tatsache ergibt sich teilweise aus mehreren Regierungsmaßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft sowie zur Sicherung der Liquiditätsüberbrückung von Firmen. Vor allem aber ist es wegen der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht dazu gekommen“, erläutert Pekanov.

Wie sich eine Pleitewelle auswirkt

Eine Pleitewelle hätte eine ganze Reihe von Effekten, die in der öffentlichen Debatte oft untergehen. Zum einen unterhalten Unternehmen Geschäftsbeziehungen und haben Verbindlichkeiten. Lieferanten warten auf vielleicht überlebensnotwendiges Geld. Rettet man angeschlagene Unternehmen, vermeidet man, dass die nächsten Dominosteine – die Gläubiger – fallen. „Wenn ein Unternehmen insolvent wird, schadet das auch den Gläubigern. Wenn der Fortbestand von gesunden Unternehmen gewährleistet wird, vermeidet man diesen Schaden, und die Gläubiger haben die Chance, ihr Geld zu bekommen“, erklärt Heinz Leitsmüller, Leiter der Betriebswirtschaftsabteilung der Arbeiterkammer, die Situation.

In Österreich ist es nicht so, dass die Sanierung als Chance gesehen wird,
sondern als Makel. 

Karin Ristic, Chefin des Insolvenzschutzverbands der Arbeitnehmer*innen

Der zweite Punkt ist, dass die rettenden Maßnahmen auch vor unerwünschten Investoren schützen. „Wichtig ist auch, dass dadurch Notverkäufe nicht so schnell notwendig sind. Manche Branchen sind sehr exponiert, und es gibt sehr viel billiges Geld. So kann man kleine und mittlere Betriebe vor Übernahmen schützen“, führt Christa Schlager das Ganze weiter aus.

Ein drittes Argument für die vorübergehende Aufhebung der Insolvenzantragspflicht ist, dass von der Corona-Pandemie auch Unternehmen in den Abgrund gerissen werden, deren Geschäftsmodell eigentlich tragfähig ist und die über Jahre hinweg Arbeitsplätze garantieren würden. So gibt Leitsmüller zu bedenken: „Mit der Verlängerung kann man vermeiden, dass Unternehmen, die im Kern gesund sind, insolvent werden. In der jetzigen Arbeitsplatzsituation muss alles getan werden, Arbeitsplätze, die man erhalten kann, auch zu erhalten – weil es viel schwieriger ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen, als einen bestehenden zu erhalten.“

Warnung

Eine Forderung, die nicht neu ist und mit der die Arbeiterkammer nicht allein dasteht. Schon 2020 warnte Kristalina Georgieva, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), vor einer möglichen Verdreifachung der Pleiten von Klein- und Mittelunternehmen. Sie riet den Staatschefs, das Geld nicht mit der Gießkanne zu verteilen. Es sollten nicht alle Unternehmen gefördert werden, sondern nur die, deren wirtschaftliche Probleme auch auf das Corona-Virus zurückzuführen seien. Während des Europäischen Forums Alpbach im August 2020 appellierte Georgieva: „Investieren Sie die Hilfsgelder intelligent für die Wirtschaft von morgen und schützen Sie nicht die Wirtschaft von gestern.“

Pekanov ist der Ansicht, dass die Forderungen nicht auf unbestimmte Zeit fortgeführt werden können. Schließlich gebe es Sektoren, in denen Firmen so hart getroffen wurden, dass Insolvenzen unumgänglich seien. So etwa in der Tourismusbranche. Das sieht Leitsmüller zwar ähnlich, mahnt aber ein vorsichtiges Vorgehen der politischen Entscheider*innen an: „Die Maßnahmen von einem Tag auf den anderen auslaufen zu lassen wird schwierig. Es ist Aufgabe der Regierung, sich hier entsprechende Instrumente zu überlegen und Stück für Stück wieder in einen Normalbetrieb zu kommen.“

Eines dieser Instrumente könnte sein, Verbindlichkeiten, die ein Unternehmen gegenüber dem Staat hat, in Anteile umzuwandeln, erläutert Leitsmüller. So hätte der Staat Beteiligungen, die er verwerten könnte, und die betroffene Firma hätte Zeit gewonnen. Eine Maßnahme, die in Deutschland während der Corona-Krise längst ergriffen werde, führt Schlager aus. Aber: „In Österreich hat sich die Regierung bis jetzt nicht dazu hinreißen lassen, weil sie viele andere Maßnahmen geplant hatte. Einen Fonds hat bislang nur die Stadt Wien verwirklicht. Hier gäbe es einen großen Spielraum, den Unternehmen Eigenkapital zur Verfügung zu stellen.“

BIP-Entwicklung in Österreich 2020

Quelle: Eurostat

Auf der Kippe

Wobei vor großen Rettungsmaßnahmen die Frage zu klären wäre, ob das Unternehmen tatsächlich erst durch die Corona-Krise in Schieflage geraten ist. Als Beispiel führt Schlager ein bekanntes Wiener Kaffeehaus an. Das hatte schon vor der Krise Schwierigkeiten, schaffte es aber stets zu überleben. Erst das Corona-Virus gab dem knapp kalkulierten Budget den Rest. Zwar gebe es zur Beurteilung klare Kriterien, doch jeder Einzelfall habe seine Besonderheiten.

Dazu kämen die langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise, die in diese Beurteilung mit einfließen müssten. „Es gibt Unternehmen, die nicht in Schwierigkeiten sind, bei denen sich aber die Branche massiv verändert hat. Im Stadttourismus zum Beispiel. Das Geschäftsmodell wird nicht länger so möglich sein wie vor COVID. So ergeben sich Schwierigkeiten, die vor COVID nicht da waren, die aber langfristig bleiben werden“, gibt Leitsmüller zu bedenken.

Hier seien die Geschäftsführer*innen gefragt, mit objektivem Blick auf ihr eigenes Unternehmen zu achten, redet Karin Ristic, Chefin des Insolvenzschutzverbands der Arbeitnehmer*innen, den Manager*innen ins Gewissen: „Es werden auch jetzt Insolvenzen eröffnet. Die Verlängerung der Insolvenzantragspflicht schließt ein unternehmerisch vorsichtiges Verhalten nicht aus. Die Unternehmer*innen sind auch weiterhin gefragt, ihre wirtschaftliche Situation realistisch einzuschätzen, vorausschauend zu planen und sich nicht nur auf die Maßnahmen zu verlassen.“

AK-Betriebswirt Heinz Leitsmüller zur drohenden Pleitewelle: „In der jetzigen Arbeitsplatzsituation muss alles getan werden, Arbeitsplätze, die man erhalten kann, auch zu erhalten.“

Chance oder Makel?

Dies sei ein Problem, das es schon vor der Corona-Krise gegeben habe. „Es gibt nicht wenige Unternehmen, die auch ohne COVID versuchen, die Insolvenz so lange wie möglich hinauszuzögern. In Österreich ist es nicht so, dass die Sanierung als Chance gesehen wird, sondern als Makel“, führt Ristic weiter aus.

Im Falle einer Firmeninsolvenz sei es für Arbeitnehmer*innen vor allem wichtig, rechtzeitig Hilfe und Beratung zu suchen. Allen voran bei den Betriebsräten, den Gewerkschaften oder der Arbeiterkammer (siehe Infokasten). Erfahrungsgemäß komme für viele Arbeitnehmer*innen die Insolvenz ihres Unternehmens überraschend, erklärt Ristic. In dem Moment, in dem kein Lohn mehr gezahlt wird, müsse umgehend der Anspruch geltend gemacht werden.

Auf die Arbeitslosenzahlen hätte eine drohende Insolvenzwelle geringere Auswirkungen, als von der Öffentlichkeit oft angenommen. Denn die Arbeitsplätze würden schon lange vor der Insolvenz abgebaut werden. Nämlich dann, wenn das Kurzarbeitergeld ausgelaufen ist, sich die wirtschaftliche Situation aber nicht gebessert habe. „Für einen Anstieg der Arbeitslosigkeit muss man nicht auf die Insolvenzwelle warten. Die Arbeitsplätze werden wohl vor der Insolvenz verloren gehen. Wir glauben zudem, dass die Insolvenzwelle eher kleinere Unternehmen betreffen wird.“

Und genau hier droht noch großes Ungemach, weiß auch Schlager: „Es gibt viele größere Unternehmen, denen es in Österreich relativ gut geht. Auch sehr vielen Branchen geht es noch gut. Es wird dramatisch für die vielen kleinen Firmen werden, da muss man darüber reden, wie man die schnell entschuldet.“

Ein-Personen-Unternehmen hätten die geringsten Rücklagen. Hier drohe eine enorme Pleitewelle, die mitunter direkt in eine Privatinsolvenz führen kann. Hier verspricht eine geplante Reform des Insolvenzrechts zumindest Linderung, wenn es nach den Plänen der Arbeiterkammer geht. Die fordert, dass für Unternehmen und Privatpersonen ähnliche Regeln gelten. Konkret: Die Entschuldung nach nur drei Jahren soll auch für Arbeitnehmer*innen gelten.

Noch lassen sich die Worst-Case-Szenarien vermeiden. Die Regierung ist gefragt, Konzepte zu entwickeln, die es Kleinunternehmen ermöglichen, Abgaben nachzuzahlen, ohne Konkurs anmelden zu müssen. Sie ist gefordert zu differenzieren, wer eine Insolvenz nur verschleppt und wer ohne das Corona-Virus tatsächlich ein prosperierendes Geschäft hätte. Ideen gibt es, Taten müssen folgen.

Insolvenzen in Österreich

Quelle: Statistik Austria

Vier Infos zum Thema Insolvenz

Karin Ristic, Chefin Insolvenzschutzverband der Arbeitnehmer*innen

1 / Ein großer Fehler, den Arbeitnehmer*innen im Falle einer Insolvenz vermeiden müssen, ist es, einfach die Arbeit niederzulegen. Eine Insolvenzeröffnung beendet nicht das Arbeitsverhältnis. Arbeitnehmer*innen sind trotzdem weiterhin zu ihrer Leistung verpflichtet. Erst nach ordnungsgemäßer Beendigung des Vertrages können Arbeitnehmer*innen den Stift fallen lassen. Das österreichische Insolvenzrecht bietet besondere Möglichkeiten, das Arbeitsverhältnis nach gerichtlicher Schließung zu beenden.

2 / Forderungen der Arbeitnehmer*innen, die bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, darf das Unternehmen nicht mehr bezahlen, wenn das Insolvenzverfahren erst einmal läuft. Die Forderungen der Arbeitnehmer*innen sind grundsätzlich durch den Insolvenz-Entgelt-Fonds (IEF) gedeckt – egal, wie viel Konkursmasse das Unternehmen einbringt. Um diese Absicherung in Anspruch nehmen zu können, müssen die Forderungen im gerichtlichen Insolvenzverfahren und im Verfahren bei der IEF-Service GmbH angemeldet werden.

3 / Um im Fall einer Firmeninsolvenz zu ihren Rechten und Geld zu kommen, müssen Arbeitnehmer*innen zwingend bestimmte Fristen einhalten. Die Arbeiterkammer berät die betroffenen Arbeitnehmer*innen und bietet kostenlose Vertretung durch den Insolvenzschutzverband für Arbeitnehmer*innen (ISA) an.

4 / Bei Vertretung durch den ISA – das ist bei etwa 98 Prozent aller Antragsteller*innen der Fall –, vergehen durchschnittlich rund eineinhalb Monate zwischen Antrag und Erstzahlung der Arbeitnehmer*innen-Forderungen aus dem IEF. Unvollständige Unterlagen der Lohnbuchhaltung können diesen Zeitraum verlängern.

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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