Gewinnspiel: Sag mir, was vom Sozialstaat blieb

(c) Markus Zahradnik
Wie kam es zum Ausbau des Sozialstaats im „goldenen Zeitalter“ bis Mitte der 1980er-Jahre? Weshalb verläuft die Entwicklung seither weniger eindeutig? Und wie wird sich die Corona-Pandemie auf unseren Sozialstaat auswirken? Emmerich Tálos und Herbert Obinger stellen sich in ihrem neuen Buch „Sozialstaat Österreich (1945–2000)“ diesen und anderen Fragen. Wir verlosen drei Exemplare!

Was dabei rauskommt, wenn sich ein – eigentlich längst emeritierter – Professor für Staatswissenschaften und ein Professor für Politikwissenschaften Gedanken über unseren Sozialstaat machen, und zwar vom „goldenen Zeitalter“ bis mitten hinein in die Corona-Pandemie mit grüner Regierungsbeteiligung, das kann man ganz aktuell in einem neuen Buch nachlesen. Obwohl sich das Werk schwerpunktmäßig mit der Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs befasst, nehmen die beiden Autoren, Emmerich Tálos und Herbert Obinger, auch die Anfänge des österreichischen Sozialstaates in der Monarchie und in der Ersten Republik mit in den Blick. Aus gutem Grund.

Über die Autorin

Martina Fassler hat Politikwissenschaften und Spanisch an den Universitäten Wien und Granada studiert und an der Donau-Universität Krems den Masterlehrgang Politische Kommunikation absolviert. Sie arbeitet in der AK Wien.

Denn grundlegende Gestaltungsprinzipien unseres Sozialstaates wurden damals verankert: Die Sozialversicherung knüpft noch heute an die Erwerbstätigkeit an und hat die Sicherung des Lebensstandards zum Ziel. Höhere Beiträge führen zu höheren Leistungen. Alternativen zur erwerbsarbeitsbezogenen Sozialversicherung, etwa der Umbau in Richtung einer „Volksversicherung“, wie dies in Schweden oder Großbritannien erfolgte, wurden in Österreich auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie ernsthaft verfolgt.

Sozialpolitik als Wahlpolitik

„Sozialstaat für alle“ lautete das Motto nach der Wiedererrichtung der Demokratie und der Re-Austrifizierung des Sozialrechts in den Nachkriegsjahrzehnten bis hinein in die Mitte der 1980er-Jahre. Ausgangspunkt für eine gute soziale Absicherung war das durchgängige Vollzeit-Arbeitsverhältnis, wie es damals für Männer – weniger für Frauen – typisch war. Die Einbeziehung auch der selbstständig Erwerbstätigen in die Sozialversicherung trug zum Abbau traditioneller Frontstellungen gegen die Sozialpolitik bei, wie sie in der Ersten Republik noch vorhanden waren. In den Nachkriegsjahrzehnten bestand unter den beiden Großparteien und den Sozialpartnern ein Grundkonsens über gesamtwirtschaftliche Ziele: Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung bildeten die Basis für den Ausbau des Sozialstaates. Tálos und Obinger zeichnen anhand der Bereiche Soziale Sicherung, Regelung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen, aktive Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik und Versorgungssysteme detailliert nach, wie der Sozialstaat ausgebaut wurde.

Motor kommt ins Stottern

Seit Mitte der 1980er-Jahre konstatieren die beiden Autoren gegenläufige Entwicklungen – einen insgesamt restriktiven Trend bei lediglich punktuellen Verbesserungen. So kam es Ende der 1990er-Jahre unter SPÖ-ÖVP-Regierungen in der Pensionsversicherung teils zu Verschärfungen, aber auch zu einer besseren Anrechnung von Kindererziehungszeiten, einer besseren Absicherung pflegender Angehöriger und atypisch Beschäftigter. Als „Politik der Kompromisse“ ordnen Tálos und Obinger die Entwicklung des österreichischen Sozialstaats über viele Jahrzehnte ein. Die SPÖ und die Gewerkschaft fungierten als Motor des sozialstaatlichen Ausbaus. Aufgrund der Kräfteverhältnisse gab es als Resultat aber stets einen Abtausch mit der ÖVP bzw. auf Sozialpartnerebene mit den Arbeitgeberverbänden.

Eine ähnliche Einschätzung treffen die Autoren für das Wiederaufleben der großen Koalition von 2007 bis 2017. In diese Phase fällt auch der Versuch, Fortschritte in der „Armenfürsorge“, für die traditionell die Länder und Gemeinden zuständig sind, zu erzielen. Die Sozialhilfe wird 2010 durch die Mindestsicherung mit bundesweit einheitlichen Mindeststandards abgelöst, der Regress wird weitgehend abgeschafft, die BezieherInnen der Mindestsicherung werden in die Krankenversicherung aufgenommen. Ein Fortschritt, der teils durch die türkis-blaue Regierung wieder zunichtegemacht wurde.

Neoliberaler Umbau und Spaltung

Nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus ideologischen Gründen zielten die Regierungen Schüssel von 2000 bis 2006 und die türkis-blaue Bundesregierung unter Sebastian Kurz von 2017 bis 2019 auf einen Umbau des Sozialstaates. Es sollte nur jenen geholfen werden, die gar nicht zur Selbsthilfe fähig sind. Grundsätzlich müsse daher Vorsorge Vorrang vor Fürsorge haben, fassen die Autoren die Grundprinzipien aus dem Regierungsprogramm 2000 zusammen. Diese neoliberale wird durch eine nationalistische Ausrichtung von „Solidarität“ ergänzt: Die Forderung, wonach Sozialleistungen nur der „einheimischen“ Bevölkerung zugutekommen sollen, konstatieren die Autoren für die FPÖ seit 2005 und für die ÖVP seit 2017.

Tatsächlich wurde der Sozialstaat nicht insgesamt im Sinne dieser Vorstellungen umgebaut, aber doch verändert. Unter Bundeskanzler Schüssel kam es zum Versuch, ein Drei-Säulen-Modell in der Pensionsversicherung samt Förderung der privaten Vorsorge zu etablieren und zu Kostenbelastungen für Patient*innen und Beitragszahlende im Gesundheitssystem. Private, gewinnorientierte Krankenanstalten erhielten mehr öffentliche Mittel. Zusätzlich erfolgten erste Eingriffe in die Selbstverwaltung der Sozialversicherung.

Türkis-Blau setzte diesen Weg fort: Mehr Gelder für die privaten Krankenanstalten und der Umbau der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung zugunsten der Arbeitgeber zeugen davon. Insgesamt stellen die beiden Autoren für die kurze Phase von Türkis-Blau eine Politik der Spaltung fest. Sie richtet sich gegen wirtschaftlich Schwächere, gegen Arbeitnehmer*innen und ihre Vertretung und vor allem gegen AusländerInnen. „Die im Sozialstaat institutionalisierte Solidarität wurde umgepolt auf eine nationalistische Solidarität.“

Was bringt die grüne Regierungsbeteiligung?

Kaum erkennbar ist für die Autoren eine etwaige Kurskorrektur in der Sozialpolitik durch die Regierungsbeteiligung der Grünen. Und das nicht nur wegen der alles beherrschenden Corona-Pandemie. Denn im Regierungsprogramm von Türkis-Grün würden viele sozialpolitischen Änderungen, die unter der ÖVP-FPÖ-Regierung erfolgten, unverändert fortgeschrieben. Eine wesentliche Änderung machen Tálos und Obinger aber bereits aus: Angesichts der Corona-Pandemie habe die Regierung die Sozialpartnerschaft „wiederbelebt“.

Der Sozialstaat selbst und unser Gesundheitssystem haben den „Stresstest“ durch die Corona-Krise zumindest kurzfristig gut bestanden, urteilen die Autoren. Weniger optimistisch ist die Sicht auf die längerfristige Entwicklung. Die derzeitige „Koste es, was es wolle“-Politik werde eine Austeritätspolitik befördern, wodurch der Sozialstaat zwangsläufig ins Visier von Einsparungsplänen geraten wird. Wo dann der Sparstift angesetzt wird und was als Zukunftsinvestition finanziert wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wer Österreich regiert. Denn, so ebenfalls ein Resümee von Tálos und Obinger: Trotz sonstiger Einflüsse, wirtschaftlicher Zwänge und Einschränkungen durch Vorgaben der EU verfügen die Regierungsparteien über eine ausgeprägte Gestaltungsmacht.

Ein internationaler Vergleich rundet die profunde Analyse ab. Ein lesenswertes Buch für alle, die mehr über den österreichischen Sozialstaat wissen wollen.

Das Buch:
Emmerich Tálos, Herbert Obinger: Sozialstaat Österreich (1945–2020). Entwicklungen – Maßnahmen – internationale Verortung, aktualisierte und erweiterte Neuausgabe. Studienverlag, 2020. ISBN-13: 9783706560528, 192 Seiten, 24,90 Euro

Gewinnspiel:

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