Historie: Hoheitsrechte für BürgerInnen

Foto (C) Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
Die Aufgaben der selbstverwalteten Arbeiter­kammern, wie sie das „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“ in den 1920er-Jahren darstellte. Mit den Arbeiterkammern, so der Gewerkschafter Anton ­Hueber damals, sei die Arbeiterschaft erst zur uneingeschränkten gesellschaftlichen und menschlichen Gleichberechtigung aufgerückt.
Foto (C) Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
Mit selbstverwalteten Gemeinden, Kammern und Sozialversicherungen stellt der Staat die Demokratie auf eine breitere Basis.
Dem modernen Staat sind Hoheitsrechte vorbehalten, damit das Zusammenleben funktioniert, etwa das Strafrecht oder das Festlegen von Verkehrsregeln. Mit der Einführung von Selbstverwaltung überträgt der Staat einige seiner Hoheitsrechte an Gruppen von BürgerInnen. Sie erhalten dadurch die Möglichkeit, Fragen, die sie gemeinsam betreffen, selbst zu regeln und für ihre gemeinsamen Interessen selbst einzutreten. In Demokratien erweitert die Selbstverwaltung die Mitsprache der Bevölkerung über Parlamentswahlen hinaus, ihre Wurzeln reichen aber bis in vor- und frühdemokratische Zeiten zurück. Das gilt für beide Formen der Selbstverwaltung, die die österreichische Verfassung seit 2008 vorsieht: die als „territoriale Selbstverwaltung“ bezeichnete Gemeindeautonomie und die „nicht-territoriale Selbstverwaltung“ sowie die Interessenvertretung durch Kammern und in der Sozialversicherung.

Die Gemeindeautonomie forderten in Österreich schon die aufständischen Tiroler Bauern und Bergarbeiter im 16. Jahrhundert, verwirklicht wurde sie erst durch die demokratische Republik nach 1918. Damals erhielt auch die auf die liberalen Wirtschaftsreformen Napoleons zurückgehende Selbstverwaltung in Form von Kammern ihre volle demokratische Ausprägung. Durch die ab 1802 eingerichteten französischen Handelskammern sicherte sich das zur entscheidenden Wirtschaftskraft aufgestiegene Bürgertum interessenpolitische Mitsprache. Die „chambres de commerce“ hatten das Recht, direkt mit dem zuständigen Ministerium zu verhandeln und die Interessen des Unternehmertums in die Wirtschaftsgesetzgebung und Wirtschaftspolitik einzubringen. In den Ländern des Kaisers von Österreich waren solch liberale Wirtschaftsreformen kurz nach 1800 noch nicht durchzusetzen, das schaffte erst die Revolution von 1848. Das Revolutionsparlament, der Reichstag, beschloss am 3. Oktober 1848 das Gesetz zur Errichtung von Handels- und Gewerbekammern und die folgende Kaiserdiktatur behielt sie bei, weil sie die Unterstützung der bürgerlichen Unternehmerschaft benötigte. Die gleichberechtigte Selbstverwaltung der Interessen der ArbeitnehmerInnen konnte dann in der demokratischen Republik mit dem Gesetz zur Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte vom Februar 1920 erreicht werden. Landwirtschaftskammern und berufsständische Kammern wie die Ärztekammer oder Rechtsanwaltskammer ermöglichen auch für diese Bereiche das Recht auf Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch die Beiträge leistenden ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen besteht in Österreich seit den 1880er-Jahren, als die Versicherungspflicht für ArbeiterInnen eingeführt wurde.

Selbstverwaltung setzt voraus, dass niemand, der/die zu einer Interessengruppe gehört, von ihr ausgeschlossen ist und alle das Wahlrecht für die Vertretungsorgane besitzen. Deshalb sind Selbstverwaltung und freiwillige Mitgliedschaft unvereinbar. Die Selbstverwaltungsorgane müssen demokratisch bestellt werden, nur so ist die in den Gesetzen verankerte politische Unabhängigkeit von der Regierung garantiert.

Ausgewählt und kommentiert von
Brigitte Pellar
Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/18.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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