Die Kraft der Utopie

„Ohne staatliche Beihilfen wäre der Kapitalismus auf der Intensivstation vermutlich kollabiert“, fasst Hirschel die wirtschaftlichen Auswirkungen der
Fotos (C) Firas Sabbagh/TONiC MEDiA
Die Antworten auf die Corona- und die Klimakrise liegen in der sozial-­ökologischen Transformation, sagt der Chefökonom der deutschen ­Gewerkschaft ver.di, Dierk Hirschel. Dafür fordert er allein für Deutschland 100 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen und Sozialausgaben.
Das Frankenland ist bekannt für seinen Pessimismus. „Wenn der Franke ein halbes Glas vor sich hat, dann ist das Glas immer halb leer“, scherzt der gebürtige Franke Dierk Hirschel zu Beginn unseres Interviews. Wir treffen den drahtigen Chefökonom der deutschen Gewerkschaft ver.di per Skype. Das Bild zeigt ihn – lässig ohne Krawatte – nur ­ruckelig, die Tonspur ist abgehackt. Doch der Inhalt ist deutlich.

In seinem neuen Buch „Gift der Ungleichheit“ kämpft der Chefökonom der deutschen ver.di gegen Pessimismus und Sozialabbau an und macht eine Reihe progressiver Vorschläge, wie wir aus der Corona- und der Klimakrise kommen können. „Ich verstehe mein Buch als einen Appell an die progressiven Kräfte zusammenzuarbeiten“, erklärt der ehemalige Kandidat für den SPD-Vorsitz. Denn letztendlich brauche es für den sozial-ökologischen Umbau eine progressive Regierung. „Ohne eine soziale, außerparlamentarische Bewegung wird das aber nicht zustande kommen“, mahnt Hirschel.

Zur Person
Dierk Hirschel, Ökonom
Dierk Hirschel, Jahrgang 1970, ist Chefökonom der deutschen Gewerkschaft ver.di und des DGB. 2019 kandidierte der ausgebildete Tischler und promovierte Volkswirt gemeinsam mit Hilde Mattheis für den SPD-Vorsitz.
Buchtipp

Das Gift der Ungleichheit
Wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können

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Michael Mazohl: Wie hat es Deutschland Ihrer Ansicht nach bis jetzt durch die Krise geschafft?

Dierk Hirschel: Für Deutschland gilt, dass die Anti-Krisen-Politik weitgehend angemessen war und sehr schnell gehandelt wurde. Wir haben große Rettungsschirme aufgespannt – für Kommunen, für Sozialversicherungen, für den öffentlichen Nahverkehr, für Unternehmen. Das Kurzarbeiter*innengeld hat die Beschäftigten staatlich subventioniert in den Betrieben gehalten. In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit zwar auch gestiegen, aber deutlich geringer als in Österreich. Ohne diese staatlichen Beihilfen wäre der Kapitalismus auf der Intensivstation vermutlich kollabiert, das konnte verhindert werden.

Was hätte besser laufen können?

Eine ganze Reihe an Bevölkerungsgruppen wurde von dieser Anti-Krisen-Politik nicht erfasst: die Soloselbstständigen oder auch Geringverdiener*innen, bei denen das Kurzarbeiter*innengeld nicht ausreicht. Insofern gibt es da durchaus Defizite. Bezeichnend ist auch, dass es genau die systemrelevanten Berufsgruppen sind, die zumindest in Deutschland 20 bis 25 Prozent weniger verdienen als Arbeitnehmer*innen in anderen Bereichen – und das schreit geradezu nach Veränderung. Was die Geschlechterverhältnisse anlangt, hatten wir einen Rückfall in die siebziger und achtziger Jahre. Die Betreuungsarbeit landet überwiegend bei den Frauen, das ist in Deutschland nicht anders als in Österreich. Die entscheidende Frage, die sich daraus ­ergibt: Welche politischen Lehren ziehen wir daraus?

Bezeichnend ist auch, dass es genau die systemrelevanten Berufsgruppen sind, die zumindest in Deutschland 20 bis 25 Prozent weniger verdienen als Arbeitnehmer*innen in anderen Bereichen – und das schreit geradezu nach Veränderung.

Besonders dramatisch ist die Situation auch für junge Menschen. In einem pessimistischen Szenario wird mit einer Jugendarbeitslosenrate von bis zu 30 Prozent in der EU gerechnet. Wie geben wir den jungen Menschen eine Perspektive?

Wir haben das Problem, dass Unternehmen Ausbildungsstellen streichen oder die jungen Auszubildenden nach dem Ende der Ausbildung nicht übernehmen. Dagegen gibt es unterschiedliche Konzepte, die wir eigentlich schon seit Jahren diskutieren. Das ist beispielsweise eine Umlage, die alle Unternehmen zwingt einzuzahlen und aus der dann die Ausbildung finanziert wird. Es kann keine Lösung sein, die Jugendlichen im Regen stehen zu lassen, sondern wir brauchen jetzt sehr schnell Antworten. Die bestehenden Ausbildungsverhältnisse müssen gesichert werden, und es muss bereits zu Ende des Sommers dafür gesorgt werden, dass alle, die einen Ausbildungsplatz suchen, auch einen bekommen.

„Wir brauchen eine klare Vorstellung und eine Agenda für den sozial-ökologischen Umbau“, so Hirschel.

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich gibt es Modelle für Kurzarbeit, die jetzt auch verlängert werden. Spricht das nicht eigentlich für eine generelle Arbeitszeitverkürzung als Instrument gegen eine Krise, die uns wohl noch länger begleiten wird?

Aus gewerkschaftlicher Perspektive geht es immer um die Verteilung von Einkommen und Arbeitszeit. Das ist der gewerkschaftliche Kampf seit ihrer Gründung. Der 8-Stunden-Tag war eine der ersten zentralen gewerkschaftlichen Forderungen.

Wir haben eine ungleiche Verteilung der vorhandenen Arbeit, das steht außer Frage. In Deutschland arbeiten Geringverdiener aufgrund unfreiwilliger Teilzeit oder Minijobs weniger als sie wollen. Spitzenverdiener*innen machen hingegen unzählige Überstunden, bräuchten aber mehr Zeit für Familie und Freunde.

Aus gewerkschaftlicher Perspektive geht es immer um
die Verteilung von Einkommen und Arbeitszeit.

Das heißt: Das Problem der Verteilung von Arbeitszeit ist vielschichtig, wir haben eine Ungleichverteilung von Arbeitszeit zwischen den Einkommensgruppen, zwischen Arm und Reich, wenn man so will, und wir haben darüber hinaus bei vielen Menschen das Bedürfnis, die Arbeitszeit zu verkürzen. Darauf brauchen wir kollektive Antworten. ­Arbeitszeitverkürzung wird in den nächsten Jahren eine wichtige Rolle spielen müssen.

Mit den Lehren aus der Krise: Welche ­Verbesserungen brauchen unsere Sozialstaaten?

Ich würde zunächst auf dem Arbeitsmarkt beginnen. Unser zentrales Problem in Deutschland ist: In den 2000er-Jahren wurde unter der rot-grünen Regierung die Verhandlungsmacht von Beschäftigten und Gewerkschaften massiv geschwächt – durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Bei uns ist bekanntlich die prekäre Beschäftigung durch politische Hilfestellung massiv angewachsen, wir reden von Leiharbeitsverhältnissen, von sogenannten Mini-Jobs, von Werkverträgen, von unfreiwilliger Teilzeit, von Soloselbstständigen. Gleichzeitig ist ein gigantischer Niedriglohnsektor entstanden.

„Finger weg! Was die Hartz-IV-Reformen letzten Endes bewirkt haben, war eine massive Schwächung von gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. Hartz IV ist in Deutschland nichts anderes als eine institutionelle Stützung des Niedriglohnsektors“, warnt Hirschel.

… für den ausgerechnet ein SPD-Bundeskanzler, Gerhard Schröder, ­verantwortlich zeichnet und mit dem er sich auch noch gerühmt hat …

Ja, das ist ein trauriges Kapitel sozialdemokratischer Geschichte, zweifelsohne. Die SPD hat aber gelernt und versucht jetzt gegenzusteuern. Aber nur gegenzusteuern ist bei Weitem nicht ausreichend. Wir haben aktuell 25 bis 30 Prozent prekäre Beschäftigungsverhältnisse, und acht bis zehn Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor.

Tatsächlich wird in Österreich immer wieder diskutiert und gefordert, die Notstandshilfe abzuschaffen, was der Einführung von Hartz IV nahekommt.

Finger weg! Was die Hartz-IV-Reformen letzten Endes bewirkt haben, war eine massive Schwächung von gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht. Hartz IV ist in Deutschland nichts anderes als eine institutionelle Stützung des Niedriglohnsektors. Wenn Österreich Verhältnisse haben will wie in Deutschland, mit einem großen Niedriglohnsektor, der sich verfestigt, dann müsst ihr Hartz IV einführen. Ich kann euch nur empfehlen, dagegen zu mobilisieren, auf die Gefahren aufmerksam zu machen und die deutschen Verhältnisse zu erklären. Solche sogenannten „Reformen“ sind ja keine Reformen, sondern Sozialabbau.

Wir reden da über gut 100 Milliarden Euro, die jedes Jahr investiert werden müssten, um den Sozialstaat substanziell auszubauen. Es ist die Aufgabe von Gewerkschaften, von Umwelt- und Sozialverbänden, von sozialen Bewegungen allgemein, dafür Druck aufzubauen.

Was braucht der Sozialstaat noch?

Was sich jetzt vor dem Hintergrund der Krise geradezu aufdrängt, ist ein Ausbau der Daseinsvorsorge: der Bildungsbereich, das Gesundheitswesen, Teile der Energieversorgung, der öffentliche Nahverkehr. Da haben wir übrigens auch einen unmittelbaren Bezug zu dem ganzen Thema Klimawandel und ökologische Transformation. Das alles gibt es natürlich nicht zum Nulltarif. Wir reden da über gut 100 Milliarden Euro, die jedes Jahr investiert werden müssten, um den Sozialstaat substanziell auszubauen. Es ist die Aufgabe von Gewerkschaften, von Umwelt- und Sozialverbänden, von sozialen Bewegungen allgemein, dafür Druck aufzubauen. Und dann möchte ich die Politiker*innen sehen, die dann sagen: „Dafür ist kein Geld da.“ Nachdem in der Krise 1,3 Billionen Euro in die Hand genommen wurden, um Unternehmen zu retten.

Was uns zur Frage führt: Wer soll das bezahlen? Passend zu Ihrem Buch „Das Gift der Ungleichheit“ wird derzeit wieder verstärkt die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland breit diskutiert. Den reichsten zehn Prozent der Deutschen gehören zwei Drittel des ­Nettovermögens. Deutschland ist also reich, aber die ­Deutschen nicht. Ähnlich in Österreich. Was sind denn Ihre Vorschläge, um ­diese ex­treme Schieflage zu korrigieren und gleich­zeitig von den Reichen Beiträge zur Finanzierung der Krise zu bekommen?

Bei den Vermögen ist eines der zentralen Probleme, dass die nicht mehr besteuert werden. Wir haben die Vermögenssteuer abgeschafft, und die Erbschaftssteuer ist eine Bagatellsteuer in Deutschland. Wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, haben wir in Deutschland ein Nettovermögen von zwölf Billionen Euro, davon ist die Hälfte Geldvermögen. Da müssen wir eine Debatte führen, wie das sein kann, dass einerseits eklatante öffentliche Armut herrscht, aber andererseits gigantischer privater Reichtum.

Eine Linke, aber auch
Gewerkschaften ohne Utopie verlieren an Kraft.

Noch dazu: Die reichsten Deutschen sind Erben, sie hatten nur das Glück, in die richtige Familie hineingeboren zu werden. Wenn es wirklich um die Übertragung von großen Vermögen an die nächste Generation geht, dann muss abkassiert werden, um das Geld entsprechend für gesellschaftlichen Fortschritt zu verwenden. Diese Ungleichheit ist die Wurzel vieler Übel, mit denen wir konfrontiert sind, und sie ist in den vergangenen zwanzig Jahren dramatisch gestiegen.

Schließen wir mit einer Utopie ab. Wie verändern sich Deutschland und Europa insgesamt in den nächsten fünf Jahren, wenn sie den Vorschlägen in Ihrem Buch folgen?

Wir hätten nur gute Arbeit, keinen Niedriglohnsektor mehr, keine prekäre Beschäftigung. Wir hätten soziale Sicherungssysteme, die niemanden in die Armut fallen lassen. Wir hätten ein vernünftiges Bildungswesen, das keinen zurücklässt. Wir hätten ein Gesundheitswesen, das nicht von Renditen getrieben ist. Wir hätten eine der modernsten Infrastrukturen, was Digitalisierung und den öffentlichen Nah- und Fernverkehr anbelangt. Strom würde nur noch aus Solar- und Windenergie bezogen. Das ist aber noch nicht die Alternative zum Kapitalismus, über die müssen wir auch noch reden.

Wir brauchen eine klare Vorstellung und eine Agenda für den sozial-ökologischen Umbau. Dafür müssen wir mobilisieren und parallel Debatten über eine gesellschaftliche Utopie führen. Wer in die Geschichte zurückblickt, wird feststellen, dass Utopien ein Kraftquell für politische Bewegungen sind. Utopien verändern Gesellschaften. Eine Linke, aber auch Gewerkschaften ohne Utopie verlieren an Kraft. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns in den nächsten Jahren darum zu bemühen, eine solche gesellschaftliche Utopie zu entwickeln.

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erschien ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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