Europas großer Wurf

Illustration EU großer Wurf
Illustration (C) Miriam Mone, Fotos (C) Michael Mazohl
Die EU schnürt das größte Finanzpaket ihrer Geschichte, um Europa aus der Wirtschaftskrise zu katapultieren. Ein historischer Moment voller Tabubrüche sowie neuer Allianzen – und ein mögliches Game-Changing in Europa.
Im Morgengrauen des 21. Juli stieß der europäische Ratspräsident ein erleichtertes „We did it!“ aus. Beinahe wäre es der bisher längste EU-Gipfel der Geschichte geworden, als nach fünf harten Verhandlungen die Einigung der Mitgliedsländer über das EU-Budget und den EU-Wiederaufbaufonds auf dem Tisch lag: 70 Seiten, die festhalten, wer in den nächsten Jahren wie viel Geld aus dem EU-Budget bekommt und wie viel einzahlt. Das Ergebnis lässt sich sehen: 750 Milliarden Euro sollen allein in den Wiederaufbau der Mitgliedsländer fließen, davon 390 Milliarden über Zuschüsse und 360 Milliarden über Kredite. Hinzu kommt ein 1.074 Milliarden schweres EU-Budget für die nächsten sieben Jahre. Finanziert wird der Wiederaufbaufonds durch ein gemeinsames Darlehen aller EU-Staaten.

Ein historischer Moment

„Was derzeit passiert, ist historisch“, sagt die SPÖ-Europa-Abgeordnete Evelyn Regner. Dass die EU-Staaten gemeinsam Anleihen aufnehmen, also sich gemeinsam verschulden, das hat es noch nie gegeben. Die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds sollen helfen, die COVID-19-Krise in den Mitgliedsländern zu bekämpfen, und verhindern, dass der Norden und der Süden Europas wirtschaftlich weiter auseinanderdriften. „Objektiv gesehen ist der Wiederaufbaufonds ein Schritt in die richtige Richtung“, so Oliver Röpke, Leiter des ÖGB-Büros in Brüssel und Präsident der Arbeitnehmer*innen-Gruppe im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA). „Das Volumen für den Wiederaufbau und das EU-Budget liegen weit über dem, was wir uns vor Corona hätten vorstellen können. Aber es gibt ein paar Wermutstropfen.“

Das Volumen für den Wiederaufbau und das EU-Budget liegen weit über dem, was wir uns vor Corona hätten vorstellen können. Aber es gibt ein paar Wermutstropfen.

Oliver Röpke, Leiter des ÖGB-Büros in Brüssel

Der größte Wermutstropfen sei das Vorgehen der „Sparsamen Vier“, zu denen neben den Niederlanden, Dänemark und Schweden auch Österreich zählt. Diese neue Allianz hat es geschafft, den Anteil der Zuschüsse an die Mitgliedsländer von 500 Milliarden auf 390 Milliarden zu drücken. Das sei falsch, so Röpke. Die Zuschüsse helfen vor allem wirtschaftsschwachen Ländern, und davon profitieren wiederum alle. Österreich wickelt 70 Prozent seiner Wirtschaft im europäischen Binnenmarkt ab. Italien ist unser zweitgrößter Handelspartner. Kommt Italiens Wirtschaft nicht rasch auf die Beine, geht es mit Österreichs Wirtschaft ebenso rasch bergab. Statt eines gesamteuropäischen Bewusstseins hat Österreichs Bundeskanzler mit populistischen Botschaften, wie „keine Schuldenunion“ oder „mehr Rabatte für Österreichs Steuerzahler*innen“, innerhalb der EU für Unmut gesorgt. „Was hier geschieht, ist Politik nach Meinungsumfragen“, kritisiert auch Regner.

Das noch größere Übel: dass die von den „Sparsamen Vier“ durchgesetzten Kürzungen massiv zulasten von Zukunftsinvestitionen gehen, vor allem bei Klimaschutz, Just Transition (einem klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft) und Gesundheit. Der Just Transition Fund soll von den ursprünglich geplanten 37,5 Milliarden Euro auf 17,5 Milliarden gekürzt werden. Die Klima-Investitionsinitiative InvestEU wird von 31 auf vier Milliarden gekürzt. Das Gesundheitsprogramm EU4Health von geplanten 9,4 Milliarden auf 1,67 Milliarden. Sieht so die „Next Generation Europe“ aus, wie der Name des europäischen Wiederaufbauprogramms verkündet?

Knackpunkt Rechtsstaatlichkeit

Wo das Europäische Parlament ziemlich sicher nachschärfen wird, ist beim Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Im Zuge des Wiederaufbaufonds wurde erstmals explizit erwähnt, dass EU-Gelder nur dann fließen sollen, wenn die Mitgliedsländer Rechtsstaatlichkeit wahren. Das hätte den Gipfel fast zum Scheitern gebracht, denn Länder wie Ungarn oder Polen wollten dem partout nicht zustimmen. Was Orban & Co nun doch zu einer Zustimmung veranlasst hat: Die Formulierung ist schwammig und lässt viel zu viel Interpretationsspielraum. Das Europäische Parlament wird das vermutlich nicht so locker sehen: „Die EU ist ja kein stumpfer Geldverteilungsverein. Wir sind ein Bollwerk für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, so Regner.

Die EU ist ja kein stumpfer Geldverteilungsverein. Wir sind ein Bollwerk für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Evelyn Regner, SPÖ-Europa-Abgeordnete

Die Mitgliedsstaaten sollen sogenannte „nationale Pläne für Wiederaufbau und Widerstandsfähigkeit“ erarbeiten. Hier lauern einige Gefahren: „Gelder dürfen keineswegs für den neoliberalen Umbau ausgegeben werden“, fordert Röpke. Ganz im Gegenteil: Zusätzlich zum wirtschaftlichen Wiederaufbau brauche es einen sozialen, zum Beispiel eine europäische Initiative für faire Mindestlöhne in allen Mitgliedsstaaten oder europäische Mindeststandards bei Arbeitslosigkeit, was ÖGB und AK seit Langem fordern.

Bevor allerdings die Länder die Ärmel hochkrempeln und nationale Pläne ausarbeiten, muss das Europäische Parlament dem Beschluss über das Finanzpaket zustimmen. Und das bäumt sich bereits gegen die Kürzungen auf.

Die vier wichtigsten Ergebnisse

  1.  Die EU nimmt erstmals gemeinsam Anleihen auf 

    Der Europäische Rat hat sich auf ein 1.800 Milliarden schweres Finanzpaket geeinigt: 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbaufonds und 1.074 Milliarden Euro für das EU-Budget der nächsten sieben Jahre. Das Geld für den Wiederaufbaufonds finanzieren die Mitgliedsstaaten solidarisch über gemeinsame Anleihen – ein historischer Moment! Ein wesentlicher Teil des europäischen Wiederaufbaufonds wird in Form von Zuschüssen vergeben (390 Milliarden Euro). Somit müssen wirtschaftsschwache Länder weniger Kredite aufnehmen.

  2.  Kürzungen zulasten von Zukunfts­investitionen 

    Die Allianz der „Sparsamen Vier“ hat jedoch ­Kürzungen im EU-Budget durchgesetzt – zulasten dringender Zukunftsinvestitionen in Klimaschutz, bei Just Transition und Gesundheit.

  3.   Geld nur bei Rechtsstaatlichkeit 

    Zahlungen aus dem Fonds werden an „Rechtsstaatlichkeit“ gebunden. Geld fließt also nur, wenn ­Mitgliedsländer rechtskonform handeln. Die Vereinbarungen sind allerdings so schwammig, dass sich Orban & Co entspannt zurücklehnen. Das EU-Parlament wird hier vermutlich nachschärfen. Interessantes Detail: Erstmals in der europäischen Geschichte wird Rechtsstaatlichkeit explizit als Bedingung erwähnt.

  4.  EU-Eigenmittel ab 2021 

    Die EU soll erstmals eigene Gelder einnehmen. Ab 2021 wird es eine Steuer auf Einwegplastik geben. Weitere Projekte ab 2023 sind eine CO2-Steuer und eine Digitalsteuer. Auch eine Finanztransaktionssteuer ist im Gespräch. Die Einnahmen aus den Eigenmitteln sollen für eine frühzeitige Rückzahlung der Anleihen aus dem Wiederaufbaufonds genutzt werden.

Über den/die Autor:in

Irene Steindl

Irene Steindl studierte Publizistik mit Schwerpunkten in Politikwissenschaft und Gender Studies an der Universität Wien. Aufgewachsen in einer Umgebung von Bleilettern und Druckmaschinen sowie sozialisiert durch die Gewerkschaftsbewegung, entwickelte sie früh eine Leidenschaft für die Arbeit&Wirtschaft. Seit 2012 ist sie als freie Journalistin tätig und gibt Schreibworkshops für Unternehmen. Von 2023 bis 2024 war sie Chefin vom Dienst bei der Arbeit&Wirtschaft.

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