Die letzten Wochen waren sehr hart, erzählt sie, „ich habe so viel gearbeitet wie noch nie zuvor in meinem Leben“. Sie kommt direkt von einer Besprechung mit Arbeitsministerin Christine Aschbacher. Der ÖGB, die Sozialpartnerschaft ist wieder gefragt, und Ingrid Reischl hat viele Antworten
Eigentlich stelle ich mir nicht vor, dass wir jetzt eine zeitlich befristete Erhöhung der Nettoersatzrate einführen, sondern eine, die auch dauerhaft wirkt.
Ingrid Reischl, leitende Sekretärin und Leiterin der Grundlagenabteilung des ÖGB
Wir haben derzeit etwa 550.000 arbeitslos gemeldete Menschen, über 1,2 Millionen sind in Kurzarbeit. Welche Maßnahmen müssen für die Betroffenen gesetzt werden?
Die dringlichste Maßnahme ist – und nicht nur aus sozialpolitischen Gründen –, die Nettoersatzrate des Arbeitslosengelds zu erhöhen. Arbeitslose Menschen haben mit 55 Prozent im europäischen Vergleich eine sehr niedrige Ersatzrate. Ein höheres Arbeitslosengeld stärkt schließlich auch die Nachfrage.
Wir trommeln das als ÖGB schon länger, wir kämpfen dafür – und es gibt auch bereits Gespräche mit der Regierung. Ich hoffe wirklich, dass diese Maßnahme gesetzt wird und zwar sehr, sehr rasch und am besten auch nachhaltig. Eigentlich stelle ich mir nicht vor, dass wir jetzt eine zeitlich befristete Erhöhung der Nettoersatzrate einführen, sondern eine, die auch dauerhaft wirkt.
Der Vorschlag lautet, die Nettoersatzrate auf 70 Prozent zu erhöhen?
Unsere Vorstellung wären 70 Prozent, und auch die Bezugsdauer sollte ausgedehnt werden, bevor man in die Notstandshilfe fällt. Neben der sozialpolitischen Notwendigkeit ist das jetzt auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit.
Aufgrund der Menge der Anträge zur Kurzarbeit ist im AMS ein Flaschenhals aufgetreten, und mit mehr Arbeitslosen steigt auch der Betreuungsaufwand. Aufgrund der günstigen Situation am Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr wurden die AMS-Mittel gekürzt – müssten diese nicht umgekehrt jetzt massiv aufgestockt werden?
Ein Gebot der Stunde! Es ist dringend notwendig, die schon zugesagten 500 zusätzlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufzunehmen, um rascher die Kurzarbeitsanträge behandeln zu können. Wir sind jetzt noch immer in der Verhandlung mit der Regierung um die Verlängerung der Kurzarbeit – wir haben ja vereinbart, am legendären Freitag, den 13., in einer Verhandlung, die sehr rasch erfolgen musste: drei Monate plus drei Monate Kurzarbeit, und jetzt haben wir die entsprechende Verlängerung vereinbart.
Ziel der Regierung ist es aber, dass die Kurzarbeit günstiger werden muss …
Das sehen wir auch so. Wobei von der Bundesregierung mittlerweile zwölf Milliarden Euro dafür budgetiert wurden, zu Beginn haben wir für 400 Millionen Euro gekämpft. Die Regierung hat Angst, dass dafür einfach zu viel Geld ausgegeben wird.
Es braucht etwas Vergleichbares wie die „Aktion 20. 000“.
Ingrid Reischl
Wir sehen aber jetzt: In den Betrieben wird erst einmal langsam hochgefahren. Für viele Unternehmer war es ja nicht absehbar, wie der Verlauf dieser Corona-Krise sein wird. Und das hat dazu geführt, dass viele Unternehmen für zehn Prozent Arbeitszeit angesucht haben, und tatsächlich zeigt sich aber, dass die Firmen jetzt sukzessive hochfahren. Wir sind überzeugt, dass wir die zehn Milliarden Euro vielleicht brauchen werden, aber nicht für die ersten drei Monate, sondern wir rechnen: Bis zum Jahresende wird das Geld reichen. Auch in der Krise 2008/09 haben wir lediglich 30 bis 40 Prozent der budgetierten Mittel tatsächlich verbraucht.
Bleiben wir noch kurz bei der Arbeitslosigkeit: Wir haben ja schon vor der Krise ein recht großes Problem gehabt bei Langzeitarbeitslosen über fünfzig. Wie kann man diesen Menschen helfen, nach der Krise wieder irgendwie in das Erwerbsleben zurückzukehren?
Es braucht etwas Vergleichbares wie die „Aktion 20.000“. Wir haben aber zwei Problemgruppen: Das eine sind die Jungen, die jetzt in eine schwierige Zukunft schauen, mit einer Arbeitslosenrate über neun Prozent, und wir haben die Älteren. Für beide Gruppen wird es spezielle Programme brauchen. Für die Jugendlichen muss es um Qualifikation gehen, und es wird auch darum gehen, die überbetrieblichen Ausbildungsmodelle, etwa in der Lehre, wieder hochzufahren.
Eine gewichtige Rolle spielt auch die Betreuungssituation von Kindern. Die Schulen wurden wieder geöffnet – aber bis zu den Ferien bleiben ungefähr 15 Schultage übrig. Viele Eltern haben schon ihren Urlaub aufgebraucht, was besonders die Mütter betrifft. Wie kann es da weitergehen?
Also das ist wirklich eine große Herausforderung. Man sieht, die Frauen sind die großen Verliererinnen in der Krise, mit – wenn überhaupt möglich – Homeoffice und nebenbei Homeschooling. Die Sonderbetreuungszeit, die von der Regierung eingeführt wurde – zwei Drittel der Personalkosten müssen die Unternehmer selbst zahlen – wurde wenig in Anspruch genommen. Übrig geblieben sind die Frauen.
Unsere ÖGB-Frauen fordern deshalb eine Kinderbetreuung für die Ferien. Das würde übrigens auch Arbeitsplätze schaffen, nämlich für die Betreuungspersonen, und so etwas ist unbedingt notwendig. Sie sagen es richtig: Der Urlaub ist oft schon aufgebraucht – ja was sollen denn die Eltern mit den Kindern machen?
Schauen wir mal auf unser Gesundheitssystem, das jetzt ordentlich auf dem Prüfstand gestanden ist. Sie waren ja früher Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse: Was kann man aus der Krise lernen, was die Bedeutung unseres öffentlichen Gesundheitssystems betrifft?
Die Regierung davor war ja gerade dabei, unser Gesundheitssystem kaputtzumachen. Wir haben schon vor der Corona-Krise die ersten Auswirkungen gemerkt: Diese neue fusionierte Österreichische Gesundheitskasse ist plötzlich dagestanden mit einem angekündigten Verlust von 1,7 Milliarden Euro statt der versprochenen Patientenmilliarde.
Ich bin auch sehr froh, dass man der Empfehlung des Rechnungshofs noch nicht Folge geleistet hat, die Spitalsbetten drastisch zu reduzieren. Ich hoffe wirklich, dass wir darauf jetzt einen anderen Blick haben. Es wurde zudem noch befürchtet, dass auf die Sozialversicherungsreform Privatisierungen folgen werden, und ich hoffe, dass diese Diskussion jetzt endgültig vorbei ist.
Ein großes Dilemma haben wir im Pflegebereich. Meine demenzkranke 90-jährige Oma ist jetzt von der 24-Stunden-Betreuung zu Hause in ein Pflegeheim gekommen. Es geht ihr halbwegs gut, aber so geht es jetzt wahrscheinlich vielen anderen Omas und Opas. Was braucht unser Pflegesystem jetzt?
Wir haben vorhin über die hohe Anzahl von Arbeitslosen gesprochen. Ja und dann holen wir mit Flugzeugen und Sonderzügen kostengünstige Pflegekräfte aus dem Ausland. Also ich denke, da wird es jetzt wirklich Zeit, in der Pflege attraktive Arbeitsplätze zu schaffen, damit Menschen diesen Job auch ausüben wollen. Und dazu muss natürlich auch einfach die Bezahlung passen. Hier kann man wirklich viele gute Jobs schaffen.
Die Regierung hat angekündigt, die Pflegekrise zu lösen. Jetzt wäre wirklich der geeignete Zeitpunkt dafür. (Anm.: Jüngst kam es zu einem Pflegeskandal bei der SeneCura-Gruppe.)
Wenn wir aus der Krise etwas lernen möchten – was sind Punkte, wo wir unseren Sozialstaat ausbauen oder nachschärfen sollten?
Das Wichtigste ist, glaube ich, die Arbeitslosenversicherung. Das zeigt sich jetzt. Arbeitslosenversicherung und Notstandshilfe ausbauen und nicht, wie vor allem von der türkis-blauen Regierung angedacht, den Bereich niederfahren. Das ist eigentlich das Dringlichste neben den Gesundheitsmaßnahmen.
Wir werden neue Modelle brauchen,
wie wir Menschen unterstützen.
Ingrid Reischl
Es fehlt wahnsinnig viel Geld. Die Sozialversicherungsbeiträge brechen ein, erstens sind sie großzügig gestundet worden, und zweitens reduzieren sie sich durch niedrigere Einkommen aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit beziehungsweise der Kurzarbeit. Das heißt, es wird notwendig sein, den Gesundheitssektor finanziell entsprechend auszugestalten. Und wir werden neue Modelle brauchen, wie wir Menschen unterstützen.
Ich glaube, man muss auch über die Mindestsicherung reden. Man hört, es werden viele Menschen in die Mindestsicherung fallen, und auch hier sollten Verbesserungen finanzieller Art gesetzt werden. Denn all das bringt Konsumnachfrage, und genau diese Nachfrage brauchen wir jetzt.
Wir hören es ständig von der Politik und in den Medien: Die Krise kostet wahnsinnig viel Geld, weit mehr als die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09, die überwiegend von den „kleinen Leuten“ bezahlt wurde. Wer soll diesmal bezahlen?
Wir werden eine Verteilungsdiskussion bekommen, die sich gewaschen hat, und es ist ganz logisch, dass die „kleinen Leute“ diese Krise nicht bezahlen werden können.
Woran denken Sie? Reichensteuern, Solidaritätsabgaben?
Das sind die ersten Ideen, wie man auch die, die jetzt noch Geld haben, zur Kasse bittet. Als ÖGB haben wir einen Beschluss für eine Vermögenssteuer ab einem Freibetrag von 700.000 Euro. Es wäre mir jedes Mittel recht, um von oben zu holen.
Ob das jetzt mehrere befristete Maßnahmen wären, um die Krise ein bisschen zu bezahlen, ja, das ist mir völlig egal. Es kann nur nicht so sein, dass diejenigen, die wir jetzt vielleicht als Heldinnen feiern, dann diejenigen sind, die die Krise bezahlen.