Zeit für ein kleines Gedankenexperiment: Wie würde unsere Arbeitswelt aussehen, wenn es keine Kollektivverträge gäbe? Die kurze Antwort: Ein ganzes Stück düsterer, denn ohne KVs gäbe es deutlich weniger Rahmenbedingungen und Mindestanforderungen, die von Arbeitgebern erfüllt werden müssen. Gesetzlich ist beispielsweise keine jährliche Lohn- bzw. Gehaltserhöhung vorgesehen. Um also Preissteigerungen im Rahmen der jährlichen Inflation abzufedern, müssten alle ArbeitnehmerInnen einzeln verhandeln, dass ihre Entlohnung dementsprechend angepasst wird.
Schutz vor Dumping – auch für Unternehmen
Dasselbe gilt für Mindestlöhne und -gehälter: Auch diese sind nicht im Gesetz, sondern in den Kollektivverträgen festgelegt. Ohne diese Mindeststandards könnten Arbeitgeber die Löhne und Gehälter ihrer Beschäftigten völlig frei bestimmen. Die Auswirkungen bekämen nicht nur die ArbeitnehmerInnen zu spüren. Auch die Unternehmen gerieten dadurch in einen gesteigerten Konkurrenzkampf, denn ohne Grenze nach unten wird es immer einen Betrieb geben, der noch niedrigere Löhne zahlt und seine Produkte oder Dienstleistungen dadurch noch günstiger auf den Markt werfen kann.
Ein Generalkollektivvertrag wird zwischen dem ÖGB als Dachverband aller Gewerkschaften und der Wirtschaftskammer
Österreich abgeschlossen. Dieser Kollektivvertrag gilt automatisch für alle Branchen und Betriebe in Österreich, die der Wirtschaftskammer angehören. Ein Beispiel dafür ist der Generalkollektivvertrag für die Berechnung des Urlaubsentgeltes. Dieser wurde anlässlich der Einführung des Urlaubsgesetzes abgeschlossen und regelt die Berechnung für die Fortzahlung der Bezüge während des Urlaubes.
Damit es diese Abwärtsspirale nicht gibt, braucht es Kollektivverträge, die branchenweit Mindeststandards vorschreiben. So könnte man einen Kollektivvertrag als Basisverhandlung über Beschäftigungsbedingungen sehen, die ArbeitnehmerInnen selbst nicht führen müssen. Denn das übernehmen die Gewerkschaften für sie. Die Betonung liegt auch auf dem Wort Beschäftigungsbedingungen, denn Kollektivvertragsverhandlungen gehen weit über Bestimmungen zu Lohn und Gehalt hinaus. Ganz allgemein kann gesagt werden: „Kollektivverträge sind ein Werkzeug, um Gesetze auszubauen, Gesetzesbestimmungen zu verbessern und an die jeweilige Branche mit ihren spezifischen Bedürfnissen anzupassen und zu individualisieren“, so Canan Aytekin, bis vor Kurzem Leiterin der Fachbereiche der Gewerkschaft vida. Es geht bei Kollektivverträgen auch um Überstundenregelungen und Zuschläge, um Freizeitoptionen, Arbeitszeiten und noch vieles mehr. Kurz gesagt: Es geht um faire Arbeitsbedingungen für die jeweilige Branche bzw. Berufsgruppe.
Mindesturlaub
In der Vergangenheit war es zudem oft so, dass branchenübergreifende Generalkollektivverträge günstigere Bedingungen für ArbeitnehmerInnen vorsahen, lange bevor die entsprechenden Verbesserungen auch im Gesetz verankert waren. So betrug beispielsweise bis 1973 das jährliche gesetzliche Urlaubsausmaß lediglich zwei Wochen. Dank dem 1964 abgeschlossenen General-KV wurde dies auf drei Wochen Mindesturlaub erhöht – bereits neun Jahre bevor dies auch gesetzlich verankert wurde.
Eine für uns nicht mehr wegzudenkende Errungenschaft von Kollektivverträgen sind das 13. und 14. Monatsgehalt.
Eine weitere, für uns nicht mehr wegzudenkende Errungenschaft von Kollektivverträgen sind das 13. und 14. Monatsgehalt. Denn auch das ist gesetzlich nicht geregelt und den Verhandlungen der Gewerkschaften zu verdanken. Wären sie nicht im KV verankert, müssten Arbeitgeber sie nicht bezahlen, denn gesetzlichen Anspruch darauf gibt es keinen.
Schutz der Beschäftigten
Auf die Frage, warum Kollektivverträge so wichtig sind, lässt sich sagen: Sie stellen ein wichtiges Instrument dar, um die Rechte der arbeitenden Bevölkerung gegenüber ihren Arbeitgebern durchzusetzen. Und in Österreich sind 98 Prozent aller Beschäftigten von Kollektivverträgen erfasst. Das ist nicht überall so. Wie viel von Sozialpartnern und ArbeitnehmerInnenvertretungen gesteuert und mitbestimmt werden kann, ist von Land zu Land unterschiedlich. Das zeigt auch die 2019 von der OECD durchgeführte Studie mit dem Titel „Negotiating our way up – Collective bargaining in a changing world of work“, die die Effekte von kollektivvertraglichen Vereinbarungen und Mitbestimmungsformen der Beschäftigten untersucht sowie nationale Unterschiede analysiert. Im Grunde dreht sich die Studie um die Frage, wie kollektive Verhandlungen und betriebliche Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen dazu beitragen können, die Arbeitsqualität zu erhöhen.
Die OECD hat dafür bestimmte Kennzahlen verglichen. Eine davon ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften. Darunter versteht man jenen Prozentteil der arbeitenden Bevölkerung, der Mitglied von Gewerkschaften ist. Dieser ist OECD-weit stark zurückgegangen: von durchschnittlich 33 Prozent (1975) auf lediglich 16 Prozent (2018). Nur Island und Belgien stellen diesbezüglich eine Ausnahme dar, sie verzeichneten sogar einen Zuwachs an Mitgliedern. In Kanada, Südkorea und Norwegen blieb die Situation stabil. Zwischen den einzelnen OECD-Ländern gibt es zudem enorme Unterschiede: Während in Estland nur 4,6 Prozent der ArbeitnehmerInnen Gewerkschaftsmitglieder sind, liegt Island mit 91 Prozent am oberen Ende.
Österreich ist hier mit einer Abdeckung durch Kollektivverträge von 98 Prozent als sehr vorbildliches Beispiel zu nennen.
Eine weitere Kennzahl ist die kollektivvertragliche Erfassung. Auch der Anteil jener Personen, die innerhalb der OECD-Länder kollektivvertraglich abgedeckt sind, ist gesunken: Waren 1985 noch 45 Prozent durch Kollektivverträge erfasst, so sind es 2017 nur noch 32 Prozent. Am stärksten gesunken ist der Anteil in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Australien, Neuseeland, Großbritannien und Griechenland. Österreich ist hier mit einer Abdeckung von 98 Prozent als sehr vorbildliches Beispiel zu nennen.
Vorteil der gesetzlichen Mitgliedschaft
Auch der Organisationsgrad der Unternehmen ist von Bedeutung. Darunter versteht man den Anteil der Arbeitgeber, die Mitglied eines Arbeitgeberverbandes oder einer unternehmerischen Interessenvertretung sind. Dieser ist in Österreich deutlich höher und liegt im OECD-Durchschnitt bei 59 Prozent. Eine Zahl, die über die letzten 15 Jahre hinweg stabil geblieben ist. Besonders hoch ist dieser unternehmerische Organisationsgrad in Österreich, da alle gewerblich tätigen Wirtschaftstreibenden aufgrund des Wirtschaftskammergesetzes Mitglieder der Wirtschaftskammer sind (gesetzliche Mitgliedschaft). Diese Kennzahlen geben aufgrund der Macht-Schieflage bereits ersten Aufschluss darüber, welchem Druck Kollektivvertragssysteme ausgesetzt sind. Da es in den einzelnen in der Studie erfassten Ländern sehr unterschiedliche Verhandlungssysteme gibt, ist ein Vergleich schwierig. Unterschiede gibt es vor allem bei der Art der Koordination, dem Ausmaß der Flexibilität, der Ebene (national, auf Branchenebene, auf Firmenebene) und der Abdeckung. Verhandelt werden einerseits Gehälter und Löhne, aber andererseits auch Arbeitsbedingungen.
Welche Bedeutung haben kollektive Verhandlungen nun jedoch auf die Löhne und Gehälter bzw. auf Arbeitsbedingungen? Die Studie hat ergeben, dass durch Verhandlungen auf Firmenebene die Löhne und Gehälter der Beschäftigten höher sind als jene von ArbeitnehmerInnen, für die branchenspezifisch verhandelt wird oder die von gar keinen Verhandlungen profitieren. Zudem sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Einkommen höher, wenn es keine Systeme von kollektiven Verhandlungen gibt bzw. Firmen ihre Entlohnungen unabhängig festsetzen.
Bessere Qualität der Arbeitsumgebung
Die Studie hat auch ergeben, dass die Qualität der Arbeitsumgebung (Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz, Arbeitszeiten bzw. Work-Life-Balance, Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Schutz vor Diskriminierung oder Einschüchterung) in jenen Ländern höher ist, in denen Sozialpartner gut organisiert und viele Leute von Kollektivverträgen erfasst sind. Das führt beispielsweise zu höherer Autonomie der Beschäftigten sowie größerer Arbeitszeitflexibilität. Die Studie belegt somit die Wichtigkeit von Kollektivvertragsverhandlungen für bessere Einkommen und Arbeitsbedingungen der ArbeitnehmerInnen und betont ihre unterstützende Bedeutung in Hinblick auf die Herausforderungen der sich verändernden Arbeitswelt.
Die Veränderungen am Arbeitsmarkt bringen die Frage mit sich, wie die Mitbestimmung der Beschäftigten in Zukunft auf neue Beine gestellt werden kann.
Die Veränderungen am Arbeitsmarkt bringen die Frage mit sich, wie die Mitbestimmung der Beschäftigten in Zukunft auf neue Beine gestellt werden kann. Es sind Fragen, mit denen sich Gewerkschaften international schon lange beschäftigen. Denn in den letzten Jahren ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den OECD-Ländern zurückgegangen. Zudem haben sich zunehmend neue, atypische Beschäftigungsformen entwickelt, die keine entsprechende ArbeitnehmerInnenvertretung haben. Gerade für atypisch Beschäftigte oder auch falsch kategorisierte Selbstständige müssen Lösungen gefunden werden, damit auch sie von kollektiven Verhandlungen profitieren können. Denn wie die Erfolgsgeschichte des Kollektivvertrags zeigt, ist es für alle von Vorteil, wenn die Stimmen und Anliegen von arbeitenden Menschen Gewicht haben und somit dafür gesorgt wird, dass sie ihrer Tätigkeit unter guten Arbeitsbedingungen nachgehen können.