Die Fahne der Solidarität

Wien, Rathausplatz, Frühjahr 1930: Die freigewerkschaftlichen Organisationen der Verkehrs- und Transportbediensteten präsentieren eine dunkelrote Seidenfahne mit dem Logo der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF), die sie als Ehrengeschenk für ihre Mitwirkung an den Boykottaktionen des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) und der ITF 1920 erhalten hatten. In einem Dankbrief schrieb ITF- und IGB-Generalsekretär Edo Fimmen: Die Internationale dankt Euch dafür, was Ihr auf ihr Geheiß gebracht habt, und wird Euch Eure Hingabe und Euer rechtig-solidarisches Benehmen nicht vergessen. Bleibt, was Ihr bewiesen habt, die beste Truppe der internationalen Arbeiterarmee.

Der Hintergrund: Die ungarische Räterepublik war blutig zerschlagen worden und mit Duldung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs konnte Admiral Horthy ein autoritäres Regime errichten. Der IGB rief zum Boykott Horthy-Ungarns auf, um wenigstens eine Milderung des Regime-Terrors zu erreichen. Der Gewerkschaftsredakteur Richard Wagner schilderte den Verlauf der Aktion als Zeitzeuge:
Dem roten Terror folgte der viel grausamere weiße Terror, der die Arbeiterschaft blutig niedertrat. Am 20. Juli 1920 begann beschlussgemäß der internationale Boykott. Die österreichischen Arbeiter und Angestellten sperrten, allem Widerstand der Bourgeoisie zum Trotz, die Grenzen lückenlos ab. Der Güterverkehr stockte. Kein Brief, kein Telegramm ging über die Grenze. Aber die Nachbarländer verfügten nicht über die gleiche gewerkschaftliche Macht. Am 8. August wurde der Boykott abgebrochen.

Die ebenfalls beteiligten deutschen und jugoslawischen Freien Gewerkschaften hielten also nicht sehr lange durch, die christlichen Gewerkschaften lehnten eine Beteiligung am Boykott gegen Horthy-Ungarn, mit dem sie sympathisierten, grundsätzlich ab. Neben wirtschaftlichen Überlegungen führten sie an, sie wollten sich nicht an diesem Boykott beteiligen, der von dem von der internationalen Judenschaft ausgesprochenen Hass gegen das christliche Ungarn diktiert wurde.

Erfolgreicher war die Verhinderung von Waffenlieferungen nach Polen, zu der IGB und ITF aufriefen und an der sich Österreichs Freie Gewerkschaften ebenfalls beteiligten. Es ging darum, ein möglichst rasches Ende des Krieges zwischen dem wiedererstandenen Staat Polen und der noch vom Bürgerkrieg zerrissenen jungen Sowjetunion herbeizuführen – ein Krieg, der von 1919 bis 1921 dauerte und sich zu einem neuen großen Konflikt auszuweiten drohte.
Die Internationale beschloss, dem drohenden neuen Krieg die Waffen zu entziehen, berichtete Eduard Straas, der Vertreter der österreichischen Freien Gewerkschaften im IGB.

Es sollte kein Zug mit Kriegsmaterial nach Polen geführt werden, kein Schiff, das Kriegsgeräte führte, irgendeinen Hafen verlassen und kein einziger Soldat befördert werden. Diesen Beschluss durchzuführen, war nicht leicht. Aber es gelang. Als die Friedensverhandlungen zwischen Russland und Polen begannen, konnte die Aktion abgeschlossen werden.

Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von Brigitte Pellar, Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/16.

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