Am Vorabend des Ersten Weltkrieges besaß das oberste Prozent der Haushalte in Frankreich 60 Prozent des gesamten Vermögens, in Großbritannien sogar fast 70 Prozent, ein Großteil davon war ererbt. Mit diesen und vielen anderen Daten besticht Thomas Piketty in seinem grandiosen Buch „Capital in the Twenty-First Century“, das Anfang Oktober auf Deutsch erscheint (siehe„Das Erbe der Ungleicheit“). Um 1900 erbte die abgehobene Vermögensaristokratie mehr, als der Großteil der Bevölkerung im ganzen Leben durch Erwerbsarbeit – meist als Dienstbotinnen und Dienstboten für die Reichen – verdienen konnte. Diese extreme Ungleichheit äußerte sich in einzementierten sozialen Strukturen, wirtschaftlichem Niedergang und gesellschaftlicher Instabilität.
Piketty sieht unsere reichen Gesellschaften heute auf ähnliche Probleme zusteuern. Denn die Vermögen der privaten Haushalte werden bald wieder das Fünf- bis Sechsfache der jährlichen Wirtschaftsleistung betragen. So erfreulich dieser rasche Anstieg ist, so gefährlich ist die enorme Konzentration dieses Vermögens: Heute besitzt ein Prozent (37.000 Haushalte) in Österreich bereits wieder 37 Prozent des Vermögens, das heißt etwa 470 von insgesamt 1.250 Milliarden Euro. Die Verteilung der Einkommen ist zwar weniger ungleich als jene der Vermögen, doch in den USA beträgt der Anteil des obersten Prozents aufgrund der enormen Einkommen der Supermanager und Superrentiers bereits wieder ein Viertel – und damit so viel wie vor der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre.
Schlecht für den Sozialstaat
Die negativen Folgen zunehmender Ungleichheit sind offensichtlich: Wachsen die Einkommen aus Arbeitsleistung nicht, die leistungslosen Einkommen aus Vermögensbesitz hingegen rasch, entstehen falsche Anreize und der Wohlstand sinkt. Konkret: Sinken die Einkommen jener, die viel konsumieren, dann fehlt die Nachfrage nach Gütern sowie Dienstleistungen und Arbeitslosigkeit entsteht. Nehmen die Einkommen jener zu, die den Großteil sparen, und sind Vermögen stark konzentriert, dann wird risikoreich veranlagt. Das wiederum mündet in spekulative Blasen auf den Finanzmärkten und löst schwere wirtschaftliche Krisen wie in den 1930er-Jahren oder seit dem Jahr 2007 aus. Das ungleiche Wachstum der Einkommen hat auch für den Sozialstaat negative Konsequenzen: Ruht seine Finanzierung primär auf den schwach steigenden Lohneinkommen und nicht auf den stark wachsenden Vermögen, dann ist er gefährdet. Die starke Konzentration der Vermögen führt zu einer Verschiebung der Macht zugunsten einer kleinen Elite, die Medien und öffentliche Meinung kontrolliert und ihre Klientelpolitik in den Hinterzimmern betreibt. Dadurch sind letztlich Demokratie und Freiheit gefährdet.
Emanzipatorische Kräfte wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen müssen der Gefährdung der demokratischen Strukturen und der Freiheit der Einzelnen jetzt entschieden entgegentreten. Das bedeutet zunächst, dass sie sich dafür einsetzen müssen, dass Daten über die Verteilung von Vermögen, Einkommen und Lebenschancen in besserer Qualität vorliegen – und dass diese einfacher zugänglich sind. Vor allem bei den Vermögen arbeiten die Reichen und ihre InteressenvertreterInnen vehement an der Verschleierung: Sie versuchen, den automatischen Informationsaustausch zwischen den europäischen Steuerbehörden in Bezug auf die Kapitaleinkommen zu hintertreiben, das Bankgeheimnis gegenüber dem Finanzamt aufrechtzuerhalten, an der unzeitgemäßen Bewertung von Immobilien festzuhalten und Vermögenserhebungen wie jene der Oesterreichischen Nationalbank möglichst zu behindern. Transparenz ist die wichtigste Voraussetzung für eine Diskussion auf Faktenbasis. Nur Aufklärung über die Verteilung der Reichtümer schafft Bewusstsein für die Notwendigkeit der Veränderung.
Milliardenaufkommen
Der wichtigste Ansatzpunkt der Verteilungspolitik besteht heute in einer Besteuerung hoher Vermögen, Erbschaften und Einkommen. In Zahlen ausgedrückt: Bei einem Vermögen von 1.250 Milliarden Euro, davon 730 Milliarden bei den Millionärshaushalten, bei einem jährlichen Erbvolumen von 20 Milliarden Euro, ganz überwiegend im obersten Zehntel, bei absurd hohen Einkommen des obersten Prozents, das mehr als der Bundespräsident (23.000 Euro pro Monat) verdient, ist mit dieser Besteuerung in jedem Fall ein Milliardenaufkommen erzielbar. Damit ist auch eine deutliche Entlastung der Abgaben für die Masse der ArbeitnehmerInnen finanzierbar.
Sozialstaat gibt Sicherheit
Ein zweiter Ansatzpunkt aktiver Verteilungspolitik besteht in der Weiterentwicklung des Sozialstaates. Dieser stellt eine der größten Errungenschaften der Zivilisation dar. Er bietet der arbeitenden Bevölkerung zum ersten Mal einen Teil jener Sicherheit, die sonst nur die Reichen aufgrund ihrer breiten Vermögensbasis genießen. Den großen Herausforderungen unserer Zeit wie die demografische Verschiebung, veränderte Familienstrukturen und zunehmende Ungleichheit der Verteilung der Einkommen kann am wirkungsvollsten mit einem Ausbau sozialer Dienstleistungen begegnet werden. Wir müssen im österreichischen Sozialstaat deshalb das Angebot an Krippen und Kindergärten, Ganztagsschulen und Sozialarbeit, Heimhilfen und Pflegeeinrichtungen ausbauen. Zusammen mit dem sozialen Wohnbau und dem öffentlichen Verkehr sind das jene öffentlichen Leistungen, die die Lebensbedingungen der unteren und mittleren Einkommensgruppen wesentlich verbessern.
Dabei muss uns ein Grundsatz immer bewusst sein: Gute sozialstaatliche Leistungen sind nur mit einer relativ hohen Abgabenquote finanzierbar. Es gibt nur zwei Alternativen: Entweder entscheiden wir uns für ein Gesundheits-, Bildungs- und Pensionssystem österreichischer Qualität mit einem hohen Abgabenniveau – oder für ein System wie in Osteuropa mit einem niedrigen Steuerniveau in Kombination mit einem inferioren Sozialsystem. Wir dürfen deshalb keinesfalls in die Falle jener konservativen SteuersenkerInnen gehen, die zunächst auf Senkung der Abgabenlast drängen, um dann die Sozialleistungen wegen Unfinanzierbarkeit kürzen zu können.
Ein dritter Ansatzpunkt der Verteilungspolitik besteht in einer Verkürzung der Arbeitszeit (siehe auch „Revival für ein Reizthema“). Der Wohlstand in unserer Gesellschaft ist so hoch, dass die Frage berechtigt ist, ob wir die Steigerung der Arbeitsproduktivität in Form von höheren Reallöhnen oder in Form von mehr Freizeit nutzen wollen. Eine Verkürzung der Arbeitszeit eröffnet mehr Zeit für die Familie, trägt zu besserer Gesundheit bei, schafft höhere Lebensqualität und verwirklicht ein Stück Freiheit in der Arbeitsgesellschaft. Vor allem eine „kurze Vollzeit“ im Ausmaß von etwa 30 Wochenstunden gleichermaßen für Frauen und Männer, wie er als Wunsch in Befragungen immer wieder erhoben wird, könnte einen entscheidenden Anstoß für eine gerechtere Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit zwischen den Geschlechtern bilden.
Arbeitszeitverkürzung ist eines der wirkungsvollsten Instrumente zur Sicherung von Beschäftigung. Deshalb sind die Vorstöße von PRO-GE und GPA-djp so vorbildhaft, die in den jüngsten Kollektivvertragsabschlüssen in der Elektroindustrie und im Stahl- und Bergbau mit der Freizeitoption genau diese Wahlmöglichkeiten eröffnet haben: Die kollektivvertraglich vereinbarten Lohnerhöhungen können unter gewissen Bedingungen auch in Form kürzerer Arbeitszeit in Anspruch genommen werden. Wir müssen diesem Vorbild in vielen anderen Bereichen folgen, etwa indem Anreize für die Verringerung der enormen Zahl an Überstunden gesetzt werden.
Der in unserer Gesellschaft erarbeitete Reichtum gibt einer aktiven Verteilungspolitik zugunsten der arbeitenden Bevölkerung, der Kinder und Älteren erheblichen Spielraum. Solidarität zwischen den gut verdienenden Angestellten mit Monatseinkommen in Höhe von mehreren Tausend Euro mit den Jugendlichen, den Frauen und den Durchschnittsverdienern ist ein wesentliches Element des politischen Erfolges. Durchgesetzt muss die Verteilungspolitik aber vor allem gegen die Interessen der Vermögenden und der SpitzenverdienerInnen werden.
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Von Markus Marterbauer, Leiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.
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