Revival für ein Reizthema

Für rund ein Drittel aller Beschäftigten gehören Überstunden zum Alltag. Insgesamt 16 Prozent arbeiten sogar mehr als 45 Stunden wöchentlich, nicht selten auch abends zu Hause und am Wochenende – oft freiwillig und zum Teil unbezahlt. Aus Pflichtbewusstsein, für die Karriere oder  aus Angst um den Arbeitsplatz.

Überstunden wirken sich zwar finanziell günstig aus, doch abseits von Leitungspositionen sinkt die Arbeitszufriedenheit schon ab zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche1. Nach mehr als sieben Stunden Arbeit steigt etwa die Unfallgefahr deutlich an. Bei 60 Wochenstunden oder durch Wochenendarbeit ist das Risiko für Beschwerden wie Schlaf-, Verdauungs- und Kreislaufstörungen um das Vierfache erhöht.

Trotz oder wegen der Krise?

Seit jeher deuten UnternehmerInnen den Ruf nach Arbeitszeitverkürzung als Hirngespinst völlig realitätsfremder Träumer, die das Wohlergehen der Nation gefährden. In Wahrheit haben aber weder die Einführung des Achtstundentages noch der freie Samstag oder die fünfte Urlaubswoche Wirtschaftskrisen verursacht. Und auch die aktuelle Situation ist keineswegs so trist wie oft kolportiert. „Seit Jahren“, so ÖGB-Sekretär Bernhard Achitz, „nehmen die Unternehmer immer mehr Geld aus ihren Unternehmen heraus, statt in mehr Jobs und gesündere Arbeitsplätze zu investieren.“ Mit einem Anstieg um mehr als 100 Prozent zwischen 2002 und 2012 ist die durchschnittliche Gewinnauszahlung an die EigentümerInnen 3,6-mal stärker gestiegen als der durchschnittliche Bruttobezug je Beschäftigten (AK-Wertschöpfungsbarometer).

Österreich hat die Krise verhältnismäßig gut überstanden, nicht zuletzt dank Kurzarbeit: „Empirische Untersuchungen zeigen merkliche Beschäftigungseffekte einer Verkürzung der Arbeitszeit“, so AK-Experte Markus Marterbauer in der Zeitschrift WISO.2 Wobei die mit Arbeitszeitverkürzungen unvermeidlich einhergehenden Produktivitätssteigerungen die positiven Beschäftigungseffekte um bis zu zwei Drittel reduzieren. Nach Berechnungen des WIFO bewirkt die Verkürzung der Arbeitszeit um zehn Prozent ein Beschäftigungsplus um etwa vier Prozent. Sofern der Lohnausgleich (nur) im Ausmaß des Produktivitätsanstiegs erfolgt, bedeutet das zwar keinen vollen Lohnausgleich, aber die Lohnstückkosten bleiben konstant. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verschlechtert sich nicht.

Arbeitszeitverkürzung kann ihre Beschäftigungswirkungen allerdings nur dann voll entfalten, wenn die Ausweichmöglichkeiten in der Arbeitszeitgestaltung gering sind. Der Anstieg von Teilzeitarbeit, vor allem aber die starke Flexibilisierung der Arbeitszeit durch lange Durchrechnungszeiträume, die steuerliche Begünstigung von Überstunden und die Zunahme von All-in-Verträgen hat die Ausweichmöglichkeiten für Unternehmen seit den 1970er-Jahren sukzessive erhöht. Heute arbeiten längst nicht nur leitende Angestellte mit All-in-Verträgen, sondern auch VerkäuferInnen, Reinigungspersonal etc.

Kürzere Arbeitszeit gewünscht

32 Prozent der Männer und 41 Prozent der Frauen würden selbst dann gerne kürzer arbeiten, wenn sie Gehaltseinbußen dafür in Kauf nehmen müssten. Die seit 2013 in manchen Branchen mögliche Option „mehr Freizeit statt Lohnerhöhung“ wurde in der Elektroindustrie von zehn Prozent der Beschäftigten – quer durch alle Alters- und Einkommensgruppen – gewählt. Generell fällt die Reduktion der Arbeitszeit immer dann leichter, wenn das Einkommensniveau hoch ist. Die Unternehmen sind eher zu Verhandlungen über den Lohnausgleich bereit und für die Beschäftigten gewinnen immaterielle Werte wie etwa mehr Zeit für die Familie an Bedeutung.

Mögliche Maßnahmen:

  • Abbau (unbezahlter) Überstunden: Rund 69 Mio. Mehr- bzw. Überstunden wurden 2011 nicht abgegolten. Diese Umgehung gesetzlicher und kollektivvertraglicher Regeln bedeutet nicht nur weniger Geld für die Beschäftigten, sondern auch Einbußen für die Sozialversicherung. Überstunden müssen unattraktiver werden; beim ÖGB-Bundeskongress 2013 entstand die Idee einer Arbeitsmarktabgabe von einem Euro pro Mehr- bzw. Überstunde.
  • Arbeitszeitverkürzung durch kollektivvertragliche Vereinbarungen vor allem für Berufsgruppen, bei denen der Bedarf hoch ist bzw. die Rahmenbedingungen günstig sind (z. B. das Einkommen entsprechend hoch ist). Dies gilt etwa für ältere Arbeitskräfte, am Bau, in der Pflege etc.
  • Leichtere Erreichbarkeit der sechsten Urlaubswoche: Die dafür erforderliche 25-jährige Betriebszugehörigkeit wird durch die verstärkte Fluktuation von Beschäftigten selten erreicht. Vor allem Frauen würden hier besonders profitieren.
  • Verlängerte Ausbildungszeiten und Weiterbildung verbessern die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und können die Lebensarbeitszeit verringern.
  • Innovative Kinderbetreuungsmodelle als Mittel gegen den Gender Gap: Derzeit ist die Verteilung von Arbeit (und Einkommen) zwischen Männern und Frauen alles andere als fair. Frauen leisten mit 66 Prozent den Löwenanteil der unbezahlten Arbeit, während das Verhältnis bei der Leistung bezahlter Arbeit umgekehrt ist. Hier liegen die Männer mit 61 Prozent deutlich vorne. In Österreich gäbe es kaum Initiativen, die eine egalitäre Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern anpeilen, kritisiert die Soziologin Claudia Sorger. Sie verweist auf Schweden, wo die Arbeitszeitreduktion beider Elternteile zur gerechteren Aufteilung der Kinderbetreuung durch einen Steuerbonus unterstützt wird.3

Mehr Lebensqualität

Weitere erfreuliche Konsequenzen:

  • Durch die tatsächliche Reduktion der Arbeitszeit steigt die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und die Unfallgefahr sinkt. Und: Wer weniger arbeitet, lebt gesünder. So reduzieren etwa starke RaucherInnen ihren Zigarettenkonsum deutlich.4
  • Wer weniger arbeitet, hat mehr Zeit für die Familie, für (Persönlichkeits-)Bildung oder für Freiwilligentätigkeit.
  • Bei an sich guter Wirtschaftslage ist mit positiven Effekten durch mehr Konsumation (von Dienstleistungen) in der gewonnenen Freizeit zu rechnen.
  • Möglicher negativer Effekt: Obwohl der Großteil der Beschäftigten mit kürzeren Arbeitszeiten zufriedener ist, fühlen sich durch die Arbeitsverdichtung manche stärker unter Druck.

Die letzte umfangreiche gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit erfolgte in Österreich von 1970 bis 1975. Die Wochenarbeitszeit wurde von 45 auf 40 Stunden gekürzt, der Urlaubsanspruch auf vier Wochen erhöht. 1985 wurde unter Sozialminister Dallinger die fünfte Urlaubswoche eingeführt. Dallinger, von Medien und politischen Gegnern unter anderem als „wildgewordener Sozialutopist“ und „Minister für Drohung und soziale Unruhe“ bezeichnet, war ein engagierter Verfechter der Arbeitszeitverkürzung. Er war überzeugt, dass die 35-Stunden-Woche spätestens 1990 Wirklichkeit werden würde. Tatsächlich wurde seit 1985 die (Lebens-)Arbeitszeit vor allem durch das Sinken des Pensionsantrittsalters reduziert. In einzelnen Branchen wurde die Arbeitszeit mittels Kollektivvertrag herabgesetzt. Heute sind etwa in weiten Teilen der Industrie und des Gewerbes sowie im Handel 38- bzw. 38,5-Stunden-Wochen üblich. Nach wie vor stehen Arbeitszeitverkürzungen bei KV-Verhandlungen auf der Agenda. In der Metallindustrie (38,5-Stunden-Woche) soll das Thema heuer allerdings ausgespart werden. Hier gibt es wie etwa auch in der Elektronikindustrie seit 2013 die Möglichkeit, Ist-Lohn-Erhöhungen gegen Freizeit „einzutauschen“.

1 Arbeitsklima-Index der AK Oberösterreich, tinyurl.com/lqvkwcs
2 Markus Marterbauer: Mit Arbeitszeitverkürzung zu wünschenswerter Arbeitskräfteknappheit; Auszug aus WISO 2/2011, Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften.
3 Claudia Sorger (2014): Wer dreht an der Uhr? Geschlechtergerechtigkeit und gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik; Verlag Westfälisches Dampfboot.
4 Taehyun Ahn (2013): Reduction of working time: Does it lead to a healthy lifestyle? School of Economics, Sogang University.

Arbeitszeit FAIRkürzen, Arbeit FAIRteilen: www.ug-oegb.at

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Von Astrid Fadler, Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/14.

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