Die überforderte Generation

Das Problem ist nicht ganz neu und war vormals unter dem Stichwort „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ bekannt. Doch ist diese für die heutige Generation der etwa 30- bis 40-Jährigen ungleich schwieriger zu erreichen als für die Elterngeneration, meint die Wissenschaft. „Von den heutigen Erwachsenen“, so der deutsche Soziologe Hans Betram, „werden Höchstleistungen erwartet, die in keiner Weise weder von den Eltern noch von den Großeltern erbracht wurden.“ Die „überforderte Generation“ nennt er die Kohorte, die in zehn, 15 Jahren beruflich erfolgreich, privat glücklich und – eventuell – kinderreich werden soll.
In der Familienforschung und politischen Diskussion hat sich dafür der Begriff „Rushhour des Lebens“ etabliert. Sie ist „jene Lebensphase zwischen den Mittzwanzigern und Enddreißigern, in der bei vielen Menschen sowohl Ein- und Aufstieg im Beruf als auch Familiengründung weitgehend gleichzeitig erfolgen und in der die Vereinbarkeit dieser beiden Lebensbereiche eine zentrale Rolle spielt“, definiert der Grazer Sozialpsychologe Harald Lothaller.

Balance

In seiner Dissertation befasst sich Lothaller mit der Balance zwischen Lebensbereichen und der besonderen Bedeutung der Familienarbeit in dieser gedrängten Phase des Lebens. Und die ist oft Stress pur, wie ihn etwa die 37-jährige Rechtsanwältin Gisela B., seit zwei Jahren Mutter eines Sohnes, erlebt. Sie wollte alles auf einmal schaffen: eine gute Mutter sein, ihre Karriere in einer Anwaltskanzlei, ihre Partnerschaft mit dem Juristen Max und die Pflege ihres Freundeskreises. Reine Utopie, wie sich herausgestellt hat. Zuerst blieb die Freizeit auf der Strecke, damit die Freunde und dann ihre berufliche Karriere. Sie zog schließlich Teilzeit vor, „einstweilen“, wie sie sagt, bis Max Junior größer ist.

Tradition Paar

Experte Harald Lothaller ortet „ein häufiges Traditionalisierungsphänomen auf Paar-Ebene“. Das heißt, die Aufteilung zwischen den PartnerInnen wird in den beiden Lebensbereichen Beruf und Familie wieder traditioneller, auch wenn sich das Paar ursprünglich anderes vorgenommen hat. Auch Nicolle (38) und Alexander (40) hatten alles realisiert, was man sich in relativ jungen Jahren erträumt. Eine Hochschulausbildung, einen interessanten Beruf, eine kleine Eigentumswohnung am Stadtrand und – endlich – ihre Tochter Lena (5). Doch eines hatten auch sie nicht: gemeinsame Zeit. Nicolle und Alexander ist der Beruf geblieben, die Ehe ist mittlerweile geschieden. Nicht immer gelingt es der „Generation Rushhour“, alles zu vereinbaren, was sie sich ursprünglich erhofft hat.
Es kann natürlich auch schlimmer kommen. Für Petra (37) ist der Traum vom Kind weit von der Realität entfernt. Die studierte Ethnologin arbeitete lange Zeit auf der Basis von Werkverträgen, heute hat sie zwar eine relativ fixe Anstellung, doch ihr Partner Herbert gehört mit seinen 35 Jahren immer noch der „Generation Praktikum“ an. In dieser Situation ein Kind zu bekommen findet Petra einerseits verantwortungslos, andererseits fühlt sie sich auch fast schon zu alt.

Ängste als Ursache

„Studien zeigen, dass der häufigste Grund für Kinderlosigkeit die Angst um die berufliche Zukunft bzw. den Arbeitsplatz ist“, erklärt Sozialpsychologe Lothaller. Auch die Art und Weise, wie Paare ihre Familienarbeit aufteilen, spiele eine Rolle für die Wahrscheinlichkeit, (weitere) Kinder zu bekommen. Beiden Lebensbereichen – Beruf und Familie – gemeinsam ist die zeitliche Befristung, das Gefühl des Gedrängtseins. Einerseits sollte spätestens in der zweiten Hälfte des vierten Lebensjahrzehnts die berufliche Stabilität geschaffen sein. Andererseits „tickt die biologische Uhr“, vor allem für Frauen. Die „rush-hour of life“, das Leben auf der Überholspur – oder das Leben im Stau, je nachdem –, ist eigentlich ein Paradoxon. Denn unsere Lebenserwartung steigt stetig an, doch haben wir, vor allem in der genannten Lebensphase, immer weniger Zeit. ExpertInnen orten zwei Hauptursachen: höheres Bildungsniveau und Aufschub der Geburt des ersten Kindes. So hat sich der Anteil der Personen mit tertiärer Ausbildung zwischen 1981 und 2006 verdreifacht, wobei der Anstieg bei den Frauen deutlich größer war als bei den Männern. Das geht in der Regel mit einer längeren Ausbildungszeit einher. Noch um 1970 ließen sich die Menschen mehr Zeit für den Nachwuchs. Die meisten Frauen bekamen das erste Kind mit 24, 25 Jahren, ihr letztes bzw. drittes Kind mit 30 bis 32 Jahren. Im Jahr 2009 wurden Frauen, so sie sich überhaupt für Familie entschieden haben, mit durchschnittlich 29 Jahren erstmals Mutter. „Die Zeit im Lebenslauf, in der sich Frauen für Kinder entscheiden, ist auf ein ‚Fenster‘ zwischen dem 29. und 34. Lebensjahr reduziert worden“, konstatiert Soziologe Hans Bertram.

Internalisiertes Scheitern

Nicht gänzlich unbekannt ist, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zentrale Rolle im Funktionieren von Familie und somit der Gesellschaft spielt. „Vor diesem Hintergrund orten ForscherInnen eine potenzielle Überlastung der Familie“, heißt es im „Familienbericht 1999–2009 auf einen Blick“. Dazu kommt, dass Teile dieser Anforderungen, insbesondere von Müttern, stark als Teil der eigenen Identität internalisiert sind. Ein Scheitern an diesen hohen Ansprüchen werde eigenen Defiziten bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Erziehung der Kinder zugeschrieben, statt dies als mangelnde Anerkennung familiärer Leistungen zu verstehen.
Die Folgen des „alles auf einmal, und das sofort“ sind gravierend und unübersehbar. „Die aktuelle Situation ist noch weit entfernt von dem, was für eine tatsächliche Vereinbarkeit von Lebensbereichen nötig wäre“, schlussfolgert der Sozialpsychologe Harald Lothaller. „Wenn diese aus der Balance geraten, betreffen die negativen Auswirkungen nicht nur einzelne Personen: Geringe Fertilitätsrate, steigende Scheidungsziffern, geringere Produktivität und vermehrte psychische und körperliche Probleme sind die Folgen.“ Insgesamt zeigten Analysen, dass „subjektives“ Erleben und „subjektive“ Bewertungen bedeutsamer für Vereinbarkeitsschwierigkeiten sind als „objektive“ Aspekte wie das Vorhandensein betrieblicher Unterstützungsmaßnahmen. So gibt es zwar eine Väterkarenz, doch scheuen sich viele Väter, diese in Anspruch zu nehmen.
Oft führt der Weg in der Rushhour in eine Art Kreisverkehr. In Österreich leidet bereits jede dritte Person unter Schlafstörungen, eine Million Menschen gelten als Burn-out-gefährdet. „Wenn die Mehrfachbelastungen aus verschiedenen Lebensbereichen überhandnehmen, werden zuerst Abstriche bei der Freizeit gemacht, danach folgen Hausarbeit und Partnerschaft“, erklärt Lothaller. Der Psychologe rät Paaren, ehe sie die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht haben, Prioritäten zu setzen, auch sogenannte Einschränkungen in Kauf zu nehmen und vor allem: die Ressourcen Partnerschaft und Freizeit zu pflegen. Auf politischer Ebene ginge es um breite unterstützende Maßnahmen der Vereinbarkeit wie Lebensarbeitszeitmodelle und umfassende Kinderbetreuungsmöglichkeiten wie etwa in Frankreich.

Wechselnde Phasen

Ein „Auszeitmanagement“ für Männer und Frauen fordert die Unternehmensberatung A. T. Kearney. Bildungssystem und Unternehmen müssten so funktionieren, dass Eltern sich ohne Verlust von Karrierechancen zeitweilig aus dem Berufsleben zurückziehen können. Soziologe Hans Bertram hält eine Auflösung der „rush-hour of life“ nur dann für möglich, wenn an die Stelle einer Normalbiografie, die alle in einer Gesellschaft durchlaufen müssen, jene der individuellen Biografie rückt, in der sich unterschiedliche Lebensphasen abwechseln können.

Internet:
„Rushhour des Lebens“:
tinyurl.com/lvxca79
Hans Bertram: Aufsatz „Keine Zeit für die Liebe“:
tinyurl.com/lo8lkaz
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Von Gabriele Müller, Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.

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