Die Vermessung der Gesundheit

Was man nicht messen kann, lässt sich nicht managen!“, meinte einst der Management-Guru Peter Drucker. Nicht von ungefähr stellte der Softwarehersteller SAP 2010 die Schwerpunktnummer seines Kundenmagazins zur Nachhaltigkeit unter dieses Motto. Bisher kannte man SAP als den größten europäischen Hersteller von Unternehmenssoftware zur Abbildung und Abwicklung sämtlicher Geschäftsprozesse. Buchführung, Einkauf, Vertrieb, Produktion und so weiter wurden mess- und managebar. Im Laufe der Zeit waren auch Nachhaltigkeitsthemen wie Energieeffizienz und Arbeitssicherheit in die Liste der Steuergrößen aufgenommen worden. Die geläufigste Messung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erfolgt jedoch über die Unternehmensbilanz, die anhand von Finanzkennzahlen Anhaltspunkte für die Unternehmenssteuerung liefert. Nicht vergessen werden darf natürlich auch der Shareholder Value als die Mess- und Steuerungsgröße schlechthin, also der Unternehmenswert, abgebildet über den Aktienkurs. Wahrscheinlich wird heute mehr denn je gemessen und auf der Grundlage dieser Messungen gesteuert. Das Manko: Einziges Kriterium ist der wirtschaftliche Erfolg. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Unternehmenspolitik spielen nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle. Das muss nicht so sein.
Bereits die vierte Richtlinie des Europäischen Rates vom 25. Juli 1978 über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen sieht vor, dass der Lagebericht auch nichtfinanzielle Informationen, einschließlich Informationen in Bezug auf Umwelt- und Arbeitnehmerbelange, umfassen soll. Analoges wird im Österreichischen Recht über das Unternehmensgesetzbuch § 243 (5) UGB geregelt. Tatsächlich hat diese Regelung kaum etwas zur Transparenz der Sozial- und Umweltbelange der Unternehmen beigetragen. Nur eine begrenzte Zahl großer Gesellschaften publiziert regelmäßig nichtfinanzielle Informationen, und das in mangelhafter Qualität. Eine neue EU-Rechnungslegungs-Richtlinie will zumindest große Gesellschaften dazu bringen, gehaltvollere Daten nach einheitlichen Spielregeln offenzulegen. Der Geltungsbereich umfasst Unternehmen mit mehr als 500 MitarbeiterInnen, einer Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro oder einem Nettoumsatz von mehr als 40 Millionen Euro.
Die in der Richtlinie definierten Qualitätsstandards für nichtfinanzielle Informationen lassen allerdings Zweifel aufkommen, ob damit das selbst gewählte Ziel einer Verbesserung der Relevanz, Konsistenz und Vergleichbarkeit gewährleistet werden kann. Nicht einmal in Kernbereichen werden einheitliche EU-Standards definiert und auch auf internationale Rahmenwerke können sich die Unternehmen in ihrer Berichtspflicht ganz willkürlich beziehen. Beispielsweise können sie ihrer Offenlegung die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen zugrunde legen. Oder ISO 26000. Oder die Global Reporting Initiative und so weiter. Letztendlich bleibt es jedem Unternehmen selbst überlassen, wie es seine Informationen über Sozial- und Umweltbelange bereitstellt. Genau diese Beliebigkeit wird massiv von ArbeitnehmerInnen-Vertretungen und NGOs kritisiert.

Best-Practice-Beispiele

Es gibt aber auch die andere Seite: Unternehmen, die zumindest in Teilbereichen eine valide und konsistente Nachhaltigkeitsbilanz erstellen. Die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) integriert beispielsweise in ihren Geschäftsbericht 2013 eine Wissensbilanz, die darüber informiert,

  • dass die Fluktuationsrate unter einem Prozent liegt,
  • dass 40 Prozent der Beschäftigten Frauen sind,
  • dass Frauen in Führungspositionen mit 25 Prozent deutlich unterrepräsentiert sind, wenngleich in den vergangenen Jahren eine Verbesserung zu verzeichnen war, und
  • dass ca. 60 Prozent der MitarbeiterInnen von Weiterbildungsmaßnahmen erfasst waren, die durchschnittlich 3,8 Tage dauerten.

Stellt man diese Daten jenen der Oesterreichische Kontrollbank Group (OeKB) laut integriertem Geschäftsbericht 2013 gegenüber, so zeigt sich,

  • dass die Fluktuationsrate mit 2,5 Prozent höher liegt als bei der OeNB,
  • dass der Frauenanteil 58 Prozent erreicht und damit ebenfalls höher ausfällt als bei der OeNB,
  • dass 34 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt sind, mehr als in der OeNB, aber unter Berücksichtigung der Belegschaftsstruktur ungefähr gleich viele, und
  • dass die MitarbeiterInnen im Schnitt 5,5 Tage in Ausbildung waren, also mehr Zeit in die Weiterbildung investiert wurde als bei der OeNB.

Schon dieser eine Vergleich macht klar, wie wichtig möglichst einheitliche Standards für die verschiedenen Indikatoren sind: Wie wird Fluktuation gemessen? Wie eine Führungsposition abgegrenzt? Nach welchen Kriterien wird Aus- und Weiterbildung erfasst? Valide und vergleichbare Daten sind die Voraussetzung, damit derartige Statistiken für eine zielgerichtete Interessenpolitik genutzt werden können.

Möglichkeiten

BetriebsrätInnen können unter Berufung auf § 91 (1) ArbVG das Gesetz des Handelns selbst in die Hand nehmen und Gesundheits- und Sozialstatistiken zu ihrer internen Orientierung erstellen. Das „gesellschaftspolitische Diskussionsforum“ (GEDIFO), eine Plattform von Gewerkschaften und der Wiener Arbeiterkammer, hat gemeinsam mit ArbeitnehmervertreterInnen ein erstes Grundgerüst relevanter Indikatoren entwickelt und an zwei ausgewählten Unternehmen erprobt. Kernindikatoren sind unter anderem

  • Beschäftigte (Anzahl, Geschlecht, Alter, Dienstjahre, begünstigte behinderte ArbeitnehmerInnen, Akademikerquote, Führungsposition),
  • Arbeitsvertragsverhältnisse (Vollzeit, Teilzeit, Leiharbeit etc.),
  • Arbeitszeit (Überstunden, Urlaubsrückstände),
  • Aus- und Weiterbildung (Tage, Budget),
  • Entlohnung (Schema, All-in-Verträge, variable Gehaltsbestandteile höher als 25 Prozent),
  • Gesundheit (Krankenstandstage, Langzeitkrankenstände, betriebliche Gesundheitsförderung, Arbeitsunfälle),
  • Sozialstandards (Aufwendungen für freiwillige Sozialleistungen, Anzahl der Betriebsvereinbarungen).

Schon erste kleine Praxistests zeigen, was sich aus diesen Daten ableiten lässt. Angewendet auf einen großen Handelsbetrieb fördert die nüchterne Betrachtung der betrieblichen Altersstruktur dessen Rekrutierungsprobleme zutage: Junge MitarbeiterInnen sind im Vergleich zur Gesamtbranche weit unterrepräsentiert, auch weil viele EinsteigerInnen das Unternehmen in den ersten Jahren wieder verlassen. Immerhin 15 Prozent der Beschäftigten haben einen Urlaubsrückstand von mehr als 50 Tagen, was auf einen übermäßigen Workload hindeutet. Demgegenüber hatten in dem zweiten Pilotunternehmen nur acht Prozent der ArbeitnehmerInnen mehr als zwei Jahresurlaube nicht verbraucht. Teilweise kann diese Differenz auf die jüngere Belegschaftsstruktur zurückgeführt werden. Wenig überraschend, aber nichtsdestoweniger erwähnenswert: In beiden Unternehmen sind Frauen gegenüber Männern in der Gehaltseinstufung benachteiligt. Unterstützung für eine einheitliche Nachhaltigkeitsberichterstattung kommt von eher ungewöhnlicher Seite: von BlackRock, dem weltgrößten Vermögensverwalter, der als weltgrößte Schattenbank gilt. Gemeinsam mit anderen institutionellen Investoren ist BlackRock in CERES (Coalition for Environmentally Responsible Economies), einem Interessenverband zur Förderung der Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten, organisiert. „Die Zeit ist reif für eine Norm zum Nachhaltigkeitsausweis auf breiter Basis, die über freiwillige Initiativen hinausgeht“, wie Mindy Lubber, die Präsidentin von CERES, meint. Investoren hätten es nämlich satt, sich mühsam in den Nachhaltigkeitsberichten die Informationen zusammensuchen zu müssen. Als erster Schritt wird eine einfache Methode vorgeschlagen: Nachhaltigkeitsberichte, die sich mittels Hyperlinks des GRI-Rasters bedienen.

Ein erster Anfang

Selbst wenn sich die praktischen Auswirkungen der EU- und CERES-Initiativen noch nicht abschätzen lassen – es tut sich zumindest etwas bei den sogenannten „nichtfinanziellen Leistungsindikatoren“. Auch BetriebsrätInnen können etwas beitragen, indem sie zur eigenen Orientierung eine Gesundheits- und Sozialbilanz erstellen lassen. Zwar dürfen sie die Daten nach § 115 ArbVG weder publizieren noch an MitarbeiterInnen weitergeben, liegen diese jedoch einmal vor, dann ist der Schritt zur Publikation in einem Nachhaltigkeitsbericht oder integrierten Geschäftsbericht gar nicht mehr so weit.

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Von Gabi Sax, Betriebsratsvorsitzende Gesundheit Österreich, Abt. Gesundheit und Gesellschaft und Ulrich Schönbauer, Abteilung Betriebswirtschaft der AK Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/14.

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