„jenes Lumpenproletariat“

Die erste industrielle Revolution setzte in Österreich-Ungarn vor etwa 150 Jahren voll ein. Sie führte zusammen mit dem Durchbruch der modernen kapitalistischen Wirtschaft zu Umwälzungen in der Arbeitswelt. Mit der Modernisierung der Landwirtschaft und dem Niederkonkurrenzieren traditioneller Gewerbe durch die neuen Industrien verloren unzählige Menschen Arbeit und Brot. Einige fanden Beschäftigung in den Fabriken, die Mehrheit schlug sich aber als GelegenheitsarbeiterInnen durch, immer bedroht, als „Vagabunden“ in Schubhaft genommen und in den Heimatort zurückgeschickt zu werden. In den Gewerben verdrängten Angelernte, darunter viele Frauen, zunehmend die Facharbeiter. Die Folge war starke Konkurrenz zwischen den Arbeitergruppen: Facharbeiter kämpften gegen Angelernte und IndustriearbeiterInnen und beide verachteten das „Lumpenproletariat“, die Masse der ganz Armen. Dieser Ellenbogenmentalität wollte die junge sozialdemokratische Bewegung die Solidarität der Arbeiterschaft entgegensetzen. Dabei gab es zwei Strömungen: Die einen wollten nur die Fach- und Industriearbeiterschaft organisieren, sie hielten – wie Karl Marx – das „Lumpenproletariat“ für unfähig, etwas zum Kampf für eine bessere Gesellschaft beizutragen. In den Freien Gewerkschaften Österreichs setzte sich aber die andere Strömung durch: Sie entschieden sich nach heftigen Debatten dafür, alle ArbeiterInnen anzusprechen und „mit ihnen zu gehen“. Am Gründungskongress der gesamtösterreichischen Gewerkschaftsorganisation 1893 prallten die beiden Strömungen aufeinander. Hier ein Auszug aus der Debatte.

Spera (tschechisch): … meint, es wird nicht gehen, in den Vereinen Arbeitslosenunterstützung einzuführen. Mit dieser werde nur das Lumpenproletariat unterstützt. Unsere Genossen benützen diese Arbeitslosenunterstützung nicht und das Lumpenproletariat, das nur deswegen in unsere Vereine kommt, brauchen wir nicht zu unterstützen. …

Dolejšy: … warum ich mich zum Wort gemeldet habe … ist, dass ich von diesem Platze aus protestieren will gegen einen Ausdruck, den Genosse Spera heute und Genosse ermak gestern gebraucht haben. Sie sprachen nämlich die Befürchtung aus, dass das Lumpenproletariat die Gewerkschaftsvereine durch die Arbeitslosenunterstützung ausbeuten würde. Ich muss vom sozialdemokratischen Standpunkte aus dagegen auf das Entschiedenste protestieren … Ich protestiere, weil es ungerecht ist, heute Jemanden einen Lumpenproletarier zu nennen, ohne die Ursachen zu nennen, aus denen das Lumpenproletariat entsteht, und die Mittel, mit denen es abzuschaffen wäre. … wenn wir zu Hause weiter agitieren und organisieren, dann werden wir im Stande sein, jenes Lumpenproletariat, gegen welches sich hier Stimmen erhoben haben, aufzuklären.

Cermak (zur Richtigstellung): Ich muss betonen, dass ich gestern sagte „das sogenannte Lumpenproletariat“. Ich habe dieses nicht so aufgefasst, wie mir vorgeworfen wurde, nachdem ich sehr wohl weiß, dass ich mit diesem gehen muss.

Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar

 

Von Brigitte Pellar

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 05/2012.

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