Die Minimalgesellschaft

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Am 15. März 1989 wurde auf der Federal Plaza in New York die Skulptur ‚Tilted Arc‘ des Bildhauers Richard Serra auf Anordnung einer lokalen Behörde entfernt. ‚Tilted Arc‘ war eine etwa 40 Meter lange und 4 Meter hohe, selbsttragende gekrümmte Wand aus Stahl, die dort 1981 mit öffentlichen Mitteln errichtet worden war. In einer öffentlichen Anhörung nach Anrainerbeschwerden hatten 58 Menschen sich gegen die Skulptur ausgesprochen, 122 aber für sie.
Dieser Fall bezeichnet wohl, abgesehen von der Frage der plebiszitären Beurteilbarkeit von Kunst, einen Wendepunkt in der Funktionsweise von Öffentlichkeit. Es ist der sichtbare Beginn eines neuen Verständnisses von der Aufgabe des Staates – sowie davon, was der öffentliche Raum für die Menschen leisten soll bzw. leisten darf. Alle Elemente scheinen hier versammelt, die auch in ganz anderen Zusammenhängen seither, und nicht nur in den USA, immer wieder zusammen auftreten, als charakteristische Merkmale einer neoliberalen, postmodernen Ordnung: ein Eingreifen der öffentlichen Hand, um ein bislang verfügbares öffentliches Gut zu entfernen; eine überproportionale Sensibilität der Behörden für die Beschwerden einer Minderheit; die gleichzeitige Bereitschaft, über die Wünsche und Interessen einer großen betroffenen Gruppe hinwegzugehen; und dies gestützt auf die Auffassung, dass eine Beschwerde ernster zu nehmen sei als ein Wunsch.
Die staatliche oder die kommunale Behörde übernimmt nun die Mission der Beseitigung von Störendem, und das Prinzip, das hier zur Anwendung gelangt, ist – wie der Philosoph Slavoj Zizek es treffend nannte – „das postmoderne universelle Menschenrecht“, von nichts und niemandem belästigt zu werden.  Die Folge, die das für den öffentlichen Raum mit sich bringt, ist klar: über kurz oder lang wird dieser Raum nur noch ein negativ bestimmter Raum sein, ein Raum ohne jegliche positive Qualitäten, da die Staatsgewalt alles polizeilich entfernt haben wird, was jemals irgendjemanden gestört hat. Es ist, mathematisch gesprochen, nicht mehr der Raum eines übergeordneten, gemeinsamen Vielfachen der Individuen, sondern der Raum ihres größtmöglichen Teilers, den man noch finden konnte. Ein Raum, in dem nichts mehr da ist – außer einer Polizei, die dafür sorgt, dass es so bleibt: nennen wir diesen Raum den Schauplatz einer auf ihr Minimum heruntergewirtschafteten Gesellschaft – einer Minimalgesellschaft.

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Das ökonomische Prinzip der Minimalgesellschaft besteht in der Privatisierung des öffentlichen Raumes. Alles Positive, das sich darin zeigt, wird als privates Eigentum oder als private Eigenschaft definiert. Alles, was jemand tut, ist dessen private Aktivität, und alles, was jemand sagt, ist dessen private Meinung. Wenn jemand vom öffentlichen Raum irgendeine Leistung erwartet, dann ist dies von nun an eine irrige, private Erwartung. Für jede Leistung (zum Beispiel aktuelle Kunst in Topqualität gezeigt zu bekommen) sollen die interessierten Individuen – und nur diese – von nun an privat bezahlen und sich in private Räume (wie z. B. private Kunstmuseen) begeben.
Wenn die Individuen sich im öffentlichen Raum äußern, dann hat dies fortan als ihre Privatmeinung zu gelten und auch nichts anderes zu beanspruchen. Dies kann man seit dem Beginn der Vorherrschaft des Privatferrnsehens auf allen Bildschirmen beobachten: Dort treten keine Leute mehr auf, die sich sachlich zu Fragen äußern, welche die Gesellschaft als ganze betreffen (es gibt auch kaum mehr Sendungen dafür), sondern vorwiegend bizarre Freaks, die über ihre Privatmarotten erzählen oder vor laufender Kamera Würmer verspeisen.

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Dem ökonomischen Prinzip der Abwirtschaftung zur Minimalgesellschaft folgt auch die sogenannte „Bologna-Reform“ der europäischen Universitäten. Wer heute studieren möchte, bekommt kein ordentliches Studium mehr, sondern nur noch ein Bachelorstudium finanziert, worin man keine Gelegenheit mehr hat, aktuelle Forschung kennenzulernen und eigene Fragen und Forschungsinteressen zu entwickeln. Wer so etwas Extragavantes will, soll sich das gefälligst selbst bezahlen und einen Masterstudiengang besuchen. Wenn das dann gar auch noch interessant sein soll, dann wird man es nicht nur selbst bezahlen müssen, sondern bald wohl nur noch an einer teuren Privatuniversität bekommen können.
Die Funktion des Staates wird in einer Minimalgesellschaft ausschließlich darin gesehen, dass Mindeststandards gesichert werden. Dies geschieht durch Kontrollen. Darum blüht in einer neoliberalen Gesellschaft das Kontrollwesen und die Überregulierung. So wird an den Bologna-konformen Minimaluniversitäten weniger gelehrt als vielmehr permanent geprüft. Studierende sollen nicht Wissen und Methoden oder gar die von der Wirtschaft gern geforderte kreative Eigenständigkeit erwerben; sie sollen vor allem Fristen einhalten, Formulare ausfüllen und in lächerlichen Prüfungsritualen (die den Missbrauch geradezu herausfordern) sogenannte ECTS-Punkte sammeln. Anstatt für immer mehr Studierende auch entsprechend mehr Lehrende anzustellen, engagiert man darum an den Universitäten lieber immer mehr Verwalter, welche angeblich die Qualität sichern und zu diesem Zweck die Studierenden (und die Lehrenden) mit immer mehr Kontrollen schikanieren. Der minimalgesellschaftliche Staat ist darum ein Tummelplatz exzessiver Bürokratie.

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Wenn in einer Minimalgesellschaft jemand klug wird, dann ist das seine private Klugheit. Sie wird privaten Verwertungszwecken dienen, und ihr Erwerb muss privat finanziert werden. Ebenso ist es mit der Gesundheit. Auch sie wird Privatsache, und ihr Erwerb muss privat bezahlt werden. Wenn jemand krank wird, ist es von nun an dessen eigene, private Schuld, und nicht etwa ein Unglücksfall, gegen den eine gesellschaftliche Solidarität die Individuen abzusichern hätte. Darum sucht die Minimalgesellschaft nach individuellen Verfehlungen bei der Entstehung von Krankheit: Raucher sind selber schuld, wenn sie erkranken, dicke Menschen natürlich auch. Diejenigen, die keinen Sport treiben, ebenso. Und auf der anderen Seite die Sportler, die sich beim Sport verletzen, selbstverständlich auch. Wer also irgendeine Krankheit hat, für die man ihn oder sie scheinbar persönlich haftbar machen kann, soll auch selbst für die Heilung zahlen. So entsteht der staatlich versorgte Minimalpatient – sozusagen der kleine Rest, der übrig bleibt, wenn man alle privat verursachten Leiden abgezogen hat. Es kann freilich sein, dass auch gar nichts übrigbleibt.

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Das kulturelle Prinzip der Minimalgesellschaft besteht darin, dass von niemandem mehr etwas erwartet wird – außer dass er den sich immer mehr ausbreitenden Kontroll- und Zwangsapparaten gehorcht und für alles, was er sonst braucht, selbst bezahlt. Weil alle Individuen nur noch als Privatpersonen, als bourgeois, angesehen werden, traut man ihnen nicht zu, dass sie sich jemals darüber erheben könnten, um eine andere, zweite Existenzweise anzunehmen – die der öffentlichen, gleichsam schauspielerischen Rolle; jene Funktion, die der Soziologe Richard Sennett als public man bezeichnet hat  – beziehungsweise, in der Sprache der französischen Revolution: die Rolle des citoyen. Seit der Renaissance hatten Menschen in Europa und Übersee eine solche Zweiteilung erlernt und die Fähigkeit erworben, im öffentlichen Raum eine Rolle zu spielen, um anderen dadurch erträglich, angenehm und elegant zu erscheinen – und um neben ihren privaten Interessen auch als politische Bürger das Interesse der Gesellschaft als ganzer im Blick zu haben. Nun jedoch erwartet man von den Leuten nicht mehr, dass sie ihr Privates ein Stück weit hinter sich lassen und sich für den Blick der Anderen zivilisiert benehmen können. Darum begegnet man ihnen mit immer mehr Verboten und bedroht sie mit Strafen.
Zugleich aber ermuntert man sie auch, sich zu beschweren. Denn zu Privatpersonen zusammengestutzt, haben sie in der Öffentlichkeit ja auch gar keine Möglichkeit mehr, ihre privaten Empfindlichkeiten hintanzuhalten. Sie spüren nun alles, was ihnen begegnet, gleichsam sofort auf ihrer privaten Haut, und nicht etwa auf der unverbindlicheren und weniger verletzlichen Maske, die zivilisierte Menschen früher in der Öffentlichkeit zur Schau trugen. Sie haben nicht mehr das Gefühl, sich in der Öffentlichkeit ein bisschen besser benehmen zu müssen als zu Hause, nicht gleich alles persönlich zu nehmen und ein wenig aufgeschlossen zu sein auch für Dinge, die ihnen nicht ganz vertraut sind. Eine solche Leistung wird ihnen in der Minimalgesellschaft erspart. Zugleich wird ihnen jede Fähigkeit dazu abgesprochen.

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Wenn man sich nicht mehr besser benehmen kann, als man eben privat so ist (und es auch gar nicht mehr soll), dann kann man auch das bessere Benehmen anderer Leute, sofern es noch vorkommt, nicht mehr als solches begreifen. Wenn jemand zum Beispiel eine Zigarette raucht, so wird das in der Minimalgesellschaft nur noch als dessen finstere, giftige Privatbeschäftigung begriffen: Das soll er oder sie doch bitte gefälligst zu Hause machen! Polizei!
Bis vor kurzem, das heißt: bis vor etwa 15 Jahren, war das noch ganz anders. Da erblickte man in der Tabakkultur noch etwas Mondänes – eine Verhaltensweise, die dazu dient, in der Öffentlichkeit bei allen Beteiligten eine Atmosphäre der Eleganz und des kollektiven Wohlgefühls entstehen zu lassen. Tabakkultur gehörte zum zivilisierten Benehmen; sie war ein entscheidender Bestandteil des public man, denn wer raucht, nimmt eine entspannte, ruhige, vornehme Haltung ein und wird anderen dadurch angenehm. Aus diesem Grund haben unsere Eltern und Großeltern, wie sich im Familienalbum sehen läßt, oft überhaupt nur in der Öffentlichkeit oder bei eleganten Anlässen geraucht. Privat hingegen waren sie in vielen Fällen Nichtraucher. Sie begriffen es als eine Verpflichtung dem Anderen gegenüber – vergleichbar dem Gebot der Großzügigkeit, das heute noch die Raucher dazu veranlaßt, anderen Menschen eine Zigarette anzubieten.
Heute hingegen sieht man in solchem Verhalten nicht mehr die Dimension der sozialen Verpflichtung, sondern nur noch eine Neigung, ein Laster, sowie das Monströse eines rücksichtslosen Egoismus, der sich auf Kosten anderer ausbreitet. Darum verweist man den Anderen am liebsten an die Exekutive und erklärt ihm barsch, er solle das gefälligst im Freien oder innerhalb der eigenen vier Wände machen. (Freilich ist das keine wirkliche Lösung, denn wie man in den USA bereits sehen kann, wird die Tabakkultur auch im Freien zunehmend untersagt, und wer eine Wohnung mieten will, bekommt oft keinen Vertrag mehr, wenn er oder sie sich unvorsichtigerweise als Raucher oder Raucherin outet.) Angesichts der kulturellen Funktion dieser Praktiken ist dieser Verweis allerdings ähnlich absurd, wie wenn man jemandem sagte: „Wenn Sie schon unbedingt höflich sein wollen, dann machen Sie das bitte zu Hause.“ Dadurch, dass in der Minimalgesellschaft niemand mehr dazu angehalten wird, sich selbst und die Anderen als Ausübende einer öffentlichen Rolle zu begreifen, kann sich niemand mehr vorstellen, dass der Genuss oder das Glück etwas Allgemeines sein könnte – etwas solidarisch Teilbares, das zum Nutzen aller da ist. Für eine emanzipierte Gesellschaft ist die Fähigkeit, sich das Glück so vorzustellen, freilich eine unabdingbare Voraussetzung. Zu einer solchen Vorstellung unfähig geworden, rufen heute alle neidisch nach Verboten. Und wenn diese kommen, dann haben sie das Gefühl, geschützt oder befreit worden zu sein.

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Bei den aktuellen Verbotspolitiken geht es allerdings um sehr viel mehr als nur um Rauchen, Trinken, fett Essen etc. Was auf dem Spiel steht, ist vor allem die Frage, ob ein Staat sich nicht um etwas ganz anderes zu kümmern hätte als darum, den Individuen solche Dinge zu verbieten. Gibt es nicht gegenwärtig, da immer mehr Menschen auch in reichen Gesellschaften in die Nähe der Armut geraten, sehr viel wichtigere Aufgaben?
Davon lenkt eine Pseudopolitik ab, die gouvernantenhaft das Beste für die Individuen zu tun behauptet, indem sie ihnen kleinliche Verbote aufbrummt, während sie im selben Zug den multinationalen Konzernen und Investoren großzügigst freie Hand lässt. Denn es ist genau derselbe Staat, der dicke Menschen schikaniert und sie für ihr mangelndes Ernährungsbewusstsein zur Kasse bittet, und der auf der anderen Seite die Kontrollen für Lebensmittelproduktion der Konzerne unterlässt und dadurch zum Beispiel die Beimengung von Hormonen erlaubt, welche die Leute erst dick werden lässt. Die Verbotspolitiken der Minimalgesellschaft geben vor, die Individuen zu schützen. Unter diesem Vorwand aber tun sie genau das Gegenteil. Sie machen die Leute privat haftbar für die Unterlassungen des Staates.

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Eine Politik, die in einer solchen Situation, in der das multinationale Kapital mit einer Aggressivität auftritt, die wenigstens der ersten Welt bereits für etliche Jahrzehnte unbekannt geworden war, nichts anderes zu tun hat, als Trauerränder auf die Zigarettenschachteln zu kleben, mit Warnungen, die jedes Kleinkind besser aufsagen könnte, betreibt einen groben Missbrauch der Instrumente des Staates. Die entscheidende und dringliche Aufgabe der Politik hingegen ist es jetzt, angesichts der aktuellen gewaltigen Umverteilungen und Kaputtsparmaßnahmen, jede weitere Schwächung des Staates abzufangen – und jede Ablenkung von dieser Aufgabe zu vermeiden.
Es wird nicht leicht sein, gegenüber diesem Kapital, das sich an unsere Harmlosigkeit gewöhnt hat und das sich seit dem Wegfall seines realsozialistischen Widersachers so gut wie gar keine Hemmungen mehr auferlegt, wieder eine ernstzunehmende Drohung aufzubauen. Das wird vielleicht noch lange dauern. Einen wirksamen ersten Schritt in diese Richtung aber kann man immerhin jetzt schon setzen: nämlich indem man alles beseitigt, was den aktuellen, schlimmen Entwicklungen noch eine ablenkende, pseudopolitische Hülle verleiht. Alle politischen Funktionäre, die sich in den letzten Jahrzehnten für Augenauswischereien wie allgemeine Rauchverbote, Senkungen der Alkohollimits für Autofahrer, Sanktionen für Dicke oder für bloß symbolische Kompensationen wie Sprachregelungen etc. eingesetzt haben, sollten dringend aus ihren Funktionen entfernt werden. Alle Personen und Institutionen, die durch Verbote oder Bürokratisierungen den minimalgesellschaftlichen Raubbau an den allgemeinen Gütern der Gesellschaft vorangetrieben haben, müssen für die Zukunft daran gehindert werden. Alle Einrichtungen, die behaupten, Missstände zu beseitigen, aber in Wahrheit zu deren Aufrechterhaltung beitragen, weil ihre eigene Existenz in parasitärer Weise davon abhängt, müssen aufgelöst und transformiert werden. Die Kontrollore und Punktezähler, die heute betriebshemmend an den Universitäten und anderen Institutionen sitzen und die sich ihre Posten selbst verschafft haben durch angeblich zukunftsweisende Reformen, müssen entlassen und zu produktiven Funktionen umgeschult werden – um bei ihnen ein Umdenken in Gang zu bringen, dürfte ein verpflichtendes Bachelorstudium für jeden von ihnen wohl am geeignetsten sein.
Das Prinzip muss sein: Solange die Lage so schlimm ist, werden wir nichts mehr tun, was sie besser aussehen lässt und sie dadurch noch zusätzlich verschlimmert. Wie die antiken Stoiker lehrten: Erst wenn man zu einem Übel noch eine Einbildung hinzufügt, dann wird es zu einem wirklichen Problem. Heute bedeutet das, politisch gelesen: Wenn wir zu den aktuellen Umverteilungen noch die Einbildung hinzufügen, wir würden geschützt oder befreit, dann werden sie zu einem wirklichen Problem. Wenn wir aber diese Einbildungen bekämpfen, dann werden die wirklichen Probleme uns klar vor Augen treten und vor unserem Zorn nicht mehr lange sicher sein.

Von Robert Pfaller (Philosoph)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.

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