Am 16. August 2011 trafen sich die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident, um ein Signal zur Beruhigung der Lage in der Eurozone zu senden. Das Ergebnis enttäuschte, da nicht viel mehr als alter Wein in neuen Schläuchen mit modriger neoliberaler Note geboten wurde. Wichtigste Einzelmaßnahme: die Verankerung struktureller Nulldefizite in allen nationalen Verfassungen der Eurozone-Mitgliedsstaaten. Bisher gibt es eine solche Regelung, die unter dem Namen „Schuldenbremse“ besser bekannt ist, lediglich in Deutschland – wo sie allerdings erst 2020 zur Gänze in Kraft tritt.
Seit ihrer Verabschiedung wird sie vor allem wegen der einhergehenden Einschränkung des politischen Gestaltungsspielraums, ihrer möglichen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen gerade in der Einführungsphase, ihrer unklaren Berechnungsmethode und ihrer Tendenz zur Wirkung als „Investitionsbremse“ kritisiert.
Facts and Fiction
Warum sich die Schuldenbremse trotzdem großer Beliebtheit erfreut, dürfte vor allem politstrategische Gründe haben. Sie „klingt gut“, ist trotz ihrer Komplexität einfach zu kommunizieren und passt ideal zur Interpretation, dass die Krisenschulden eigentlich fahrlässig verursacht worden sind bzw. Regierungen schon sparen könnten, wenn sie nur wirklich wollten. Damit dient sie als Ablenkungsmanöver von der wahren Schuldenursache, nämlich die durch die steigende Vermögenskonzentration mitverursachte Finanz- und Wirtschaftskrise. So stört es dann wenig, dass die empirischen Fakten mit ihren Heilsversprechungen nicht in Einklang zu bringen sind. Ein paar Beispiele:
- Der Schuldenstand in der Eurozone ist vor der Krise gesunken (von 72,8 Prozent vor ihrer Gründung 1999 auf 66,1 Prozent des BIP 2007; rechnet man die „Vorkrisen-Verschuldungssünder“ Deutschland, Frankreich, Griechenland und Portugal heraus, so ergibt sich sogar ein rekordverdächtiger Rückgang der Verschuldungsquote um 21,5 Prozentpunkte in den anderen 13 Mitgliedsstaaten der Eurozone). Erst die Krise zerstörte diese Erfolge, nicht plötzliche „unverantwortliche Ausgabenpolitik“. Eine solche wäre vielmehr der Versuch gewesen, den Schuldenanstieg durch sofortige radikale Einsparungen zu stoppen, und damit die Rezession zu verschärfen.
- Die einzigen Eurozone-Mitgliedsstaaten, die in den 2000er-Jahren über mehrere Jahre die Vorgaben der deutschen Schuldenbremse erfüllt haben, sind – neben Finnland und Luxemburg – Irland und Spanien, also Staaten, die nun als Problemfälle gehandelt werden.
- Wäre die Schuldenbremse in Deutschland bereits 2007 in Kraft getreten, hätte sie nicht eingehalten bzw. die erfolgreichen Maßnahmen zur Konjunkturbelebung kaum gesetzt werden können. Allgemein berücksichtigt die Schuldenbremse den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und budgetärer Entwicklung nur unzureichend. ExpertInnen des Internationalen Währungsfonds schätzten zuletzt, dass ein Sparpaket im Ausmaß von ein Prozent der Wirtschaftsleistung diese um durchschnittlich mehr als 0,6 Prozent schwächt – was in Folge wiederum das Defizit um etwa 0,3 Prozent des BIP verschlechtert. Griechenland bestätigt unfreiwillig diesen engen Zusammenhang: Milliardenschwere Sparpakete ließen die Wirtschaft massiv schrumpfen, wodurch Steuereinnahmen wegbrechen und die Kosten für die Arbeitslosigkeit steigen – was am Ende den Staatshaushalt neuerlich belastet. Diese Zusammenhänge werden in der öffentlichen Debatte gerne ausgeblendet – lieber bedient man sich dem Klischee fortgesetzter griechischer Verantwortungslosigkeit. Und das, obwohl die griechische Entwicklung zumindest deutschen PolitikerInnen sehr vertraut sein sollte: deren Konsolidierungsversuche 2002 folgend scheiterten ebenfalls. So ernteten sie am Ende die schwächste Wirtschaftsentwicklung in der EU und ein Verfahren wegen Überschreitung der Maastricht-Defizitgrenze. Sowohl heute in Griechenland als auch damals in Deutschland hätte eine Schuldenbremse in der Verfassung daran nichts geändert.
Schuldenbremsen im Eilverfahren
Trotzdem wurden „Schuldenbremsen“ nun im Eilverfahren in der spanischen und italienischen Verfassung verankert. Frankreich soll demnächst folgen. Dieser Trend stellt eine Bedrohung für Wohlstand, Beschäftigung und Stabilität in Europa dar. Diese drei Länder plus Deutschland umfassen bereits mehr als drei Viertel der Wirtschaftsleistung der Eurozone. Versuchen alle gleichzeitig einen scharfen Sparkurs einzuschlagen, werden sich auch andere Länder von den dort zu erwartenden negativen Auswirkungen kaum abkoppeln können. Das gilt insbesondere für die österreichische Wirtschaft, die etwa 17 Prozent aller Güter und Dienstleistungen dort absetzt. Nun forderte auch die österreichische Finanzministerin eine Schuldenbremse für Österreich, allerdings in einer etwas eigenartigen Form. Sie möchte per Gesetz beschließen, dass die Staatsverschuldung bis 2020 auf 60 Prozent des BIP gedrückt werden sollte. Woher die dafür notwendigen über 40 Mrd. Euro – die Hälfte des gesamten Bundesbudgets – kommen sollen, bleibt gerade angesichts eingetrübter Wachstumsaussichten und mit einer ebenso angekündigten radikalen Senkung der Steuer- und Abgabenquote ein Rätsel.
Demokratiepolitisches Problem
Die Schuldenbremse ist aber nicht nur ein wirtschaftliches Problem, sondern auch ein demokratiepolitisches, wie etwa das spanische Beispiel zeigt: Innerhalb nur einer Woche erfolgte gegen den Widerstand der kleineren Parteien, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und selbst Teilen der regierenden SozialdemokratInnen die erste substanzielle Verfassungsänderung seit der Rückkehr zur Demokratie. Pikantes Detail: Dieses problematische Vorgehen war umsonst, denn sowohl am Tag des Beschlusses als auch danach stiegen die Zinsen für spanische Staatsanleihen erneut. Offensichtlich dürften hier die FinanzmarktakteurInnen die Maßnahme realistischer einschätzen als die spanische Regierung.
Da Schuldenbremsen zur Lösung der neuerlichen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa kaum etwas beitragen können, braucht es andere Maßnahmen. Kurzfristig wird es notwendig sein, dass die Europäische Zentralbank (EZB) direkt oder indirekt als Finanzier von Staaten einspringt, wenn private InvestorInnen ausfallen bzw. zu hohe Zinsen verlangen. Mittelfristig bedarf es einer Reduktion der Krisenanfälligkeit durch eine egalitäre Verteilung der Einkommen, effektive Finanzmarktregulierung sowie höhere vermögensbezogene Steuern, aber auch durch eine sanfte Beschränkung des Ausgabenwachstums und des Unternehmenssteuerwettbewerbs. Die Belastungen sind auf die Wohlhabendsten zu konzentrieren, die ansonsten – zugespitzt formuliert – dieses Geld ohnehin den Staaten gegen hohe Zinsen verborgen (oder den Finanzmärkten zuführen), anstatt es nachfragewirksam auszugeben.
Statt an Schuldenbremsen sollte deshalb an einer möglichst europaweiten Einführung/Erhöhung von Finanztransaktions-, Kapitalertrags-, Spitzeneinkommens-, Vermögens-, Erbschafts- und Schenkungssteuern gearbeitet wer-den. Zudem wäre es an der Zeit, die direkte und indirekte Förderung der privaten Pensionsvorsorge einzuschränken, die mitverantwortlich ist für das Aufblähen der Finanzmärkte und damit die Krisenanfälligkeit erhöhen. Ein solches Programm würde solide Staatsfinanzen ermöglichen. Die Fallbeispiele Schweden oder Finnland zeigen, dass eine hohe Steuer- und Abgabenquote ein gutes Mittel gegen Budgetdefizite und Staatsverschuldung ist.
Positiver Nebeneffekt
Ein weiterer positiver Nebeneffekt vermögensbezogener Steuern: Die moralisch richtige Beteiligung des Privatsektors bei der Entschuldung kann so – ohne problematische Nebenwirkungen wie bei echten Schuldenschnitten (neue Bankenkrise und höhere Zinsen) – gewährleistet werden.
Internet:
Horn, Gustav (2011): Schöne neue Welt ohne Schulden?
www.boeckler.de/imk_33663_37948.htm
Truger, Achim (2010): Alternative Strategien der Budgetkonsolidierung.
tinyurl.com/69xgrwd
Schreiben Sie Ihre Meinung an den Autor
georg.feigl@akwien.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at
Von Georg Feigl (BA – Mitarbeiter der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik in der AK Wien)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion
aw@oegb.at