Europa steht im Bann der Staatsschuldenkrise. Die von der EU geforderten Sparprogramme treffen besonders jene Bevölkerungsgruppen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind. Diese Politik übersieht, dass der rasche Anstieg der Staatsschulden in ganz Europa meist nicht die Folge überbordender sozialer Großzügigkeit, sondern das Ergebnis der von Banken und Finanzmärkten ausgelösten Finanz- und Wirtschaftskrise ist. Sie hat einerseits enorme Budgetkosten für die Rettung der Banken verursacht, in der EU insgesamt deutlich mehr als 300 Mrd. Euro, und andererseits hat die von ihr ausgelöste Rezession in allen Ländern die Steuereinnahmen verringert und das Budgetdefizit nach oben getrieben.
Zahl der Arbeitslosen gestiegen
Die Finanzkrise erhöhte nicht nur die Staatsverschuldung, sondern auch die Zahl der Arbeitslosen: In Österreich liegt sie noch immer um 50.000 über dem Niveau vor der Krise, in der Europäischen Union sogar um sieben Mio. Besonders dramatisch ist die Lage für Jugendliche: In 17 Mitgliedsländern der EU liegt die Arbeitslosenquote von Jugendlichen bei über 20 Prozent der Erwerbspersonen, in Griechenland beträgt sie nahezu 40 Prozent, in Spanien sogar 46 Prozent. Die arbeitslosen Jugendlichen tragen die höchsten Kosten der Finanzkrise, ohne in irgendeiner Weise zu ihrem Entstehen beigetragen zu haben. Eine Wirtschaftspolitik, die die Kosten der Krise fair verteilen will, muss deren Ursachen genau analysieren: Die Finanzkrise ist vor allem das Ergebnis von zwei Entwicklungen, der Liberalisierung des Finanzsektors und der Ungleichheit der Verteilung des Wohlstandes. Der seit den 1980er-Jahren verfolgte Abbau staatlicher Regulierungen basierte auf der neoliberalen Ideologie der Selbststeuerungsfähigkeit der Finanzwirtschaft. Er führte zu einer enormen Aufblähung des spekulativen Finanzsektors und schließlich zum Zusammenbruch der Spekulationsblasen mit schweren realwirtschaftlichen Folgeschäden.
Deshalb muss der Finanzsektor deutlich verkleinert und auf seine ursprüngliche Rolle als Diener der Realwirtschaft zurückgeführt werden. Hier sind durch die Stärkung der EU-Finanzaufsicht und die Erhöhung der Eigenkapitalerfordernisse für Banken ("Basel III") einige positive Schritte gelungen. Eine stärkere Besteuerung durch Bankenabgaben und Finanztransaktionssteuer wäre ein wirkungsvolles Instrument zur Begrenzung der Finanzaktivitäten.
Die enorme Zunahme der Ungleichheit der Verteilung von Vermögen und Einkommen hat in den vergangenen Jahrzehnten die wirtschaftliche Lage jener schmalen Bevölkerungsschicht eklatant verbessert, die zu besonders risikoreichen Finanzanlagen neigt. So entstand das Spielkapital für das weltweite Finanzcasino. Eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes könnte dazu beitragen, eine nächste Finanzkrise zu verhindern und die Krisenlasten fair zu verteilen. Drei konkrete Maßnahmen bilden die Kernelemente eines emanzipatorischen Projektes, das sich zum Ziel setzt, Freiheit und Sicherheit der Menschen zu erhöhen: der Ausbau des Sozialstaates, die Ausweitung der Besteuerung von Vermögen und die Verkürzung der Arbeitszeit.
Sozialstaat hat sich bewährt
Der Sozialstaat hat sich in der Krise bewährt: Er hat den Menschen Sicherheit gegeben und dadurch die Konjunktur stabilisiert, dabei hat er seine Überlegenheit gegenüber privaten Vorsorgesystemen eindrucksvoll bewiesen. Dennoch steht er vor großen Herausforderungen: Der Beschäftigungsrückgang in der Wirtschaftskrise hat die Einnahmen der Sozialversicherung merklich gedämpft, und die demografische Verschiebung wird langfristig wachsende Finanzierungskosten mit sich bringen. Vor allem wandeln sich die Anforderungen an den Sozialstaat, etwa weil geänderte Familienstrukturen wie die Zunahme der AlleinerzieherInnenfamilien die Erbringung von Dienstleistungen für Kinder und Pflegebedürftige in den Familien immer schwieriger machen; oder weil bei zunehmender Ungleichheit der Erwerbseinkommen ein Sozialstaat, der primär auf dem Versicherungsprinzip basiert, die Ungleichheit perpetuiert, statt sie zu verringern. Ein Sozialstaat, der diese Herausforderungen meistern will, muss vor allem in den Ausbau sozialer Dienste investieren. Soziale Dienstleistungen, von Kindergärten und Krippen über Ganztagsschulen bis zu Heimhilfen und Pflegeplätzen, stellen eine soziale Grundversorgung für die gesamte Bevölkerung dar, die besonders den Armen und der Mittelschicht zugute kommen, die sich derartige Dienstleistungen hoher Qualität privat finanziert nicht leisten könnten. In den skandinavischen Ländern wurde ein sozialer Dienstleistungsstaat aufgebaut, in dem für soziale Sachleistungen zugunsten von Kindern und Pflegebedürftigen vier- bis sechsmal so viel ausgegeben wird als bei uns. Dänemark und Schweden zeigen aber auch, dass ein gut entwickelter Sozialstaat nicht gratis ist, er kann nur durch ein relativ hohes Niveau an Abgaben finanziert werden.
Soziale Dienstleistungen fair bewerten
Ein moderner Sozialstaat muss auch die Leistungen der in diesem Sektor Beschäftigten höher bewerten. Gesellschaftliche Wertschätzung kommt in Anerkennung und Einkommen zum Ausdruck. Unsere Gesellschaft honoriert derzeit soziale Dienstleistungen, die für den sozialen Zusammenhalt genauso wie für ein erfolgreiches Wirtschaften so wichtig sind, viel schlechter als den Finanzbereich, dessen Wertschöpfung in den vergangenen Jahren so sehr zu wünschen übrig ließ. Ein zweites Element emanzipatorischer Wirtschaftspolitik, das eine soziale Investitionsstrategie in idealer Weise ergänzt, ist die Ausweitung der Besteuerung von Vermögenseinkommen und Vermögensbeständen. Die Vermögen sind außerordentlich ungleich verteilt, ihre Besteuerung ist die einzige Möglichkeit, die Reichen an der Finanzierung des Sozialstaates zu beteiligen. Zudem würde die Belastung leistungsloser Einkommen die Leistungsanreize verbessern. Selbst niedrige Steuersätze würden aufgrund der großen Volumina an Vermögen zu erheblichem Steueraufkommen führen.
Die Reichen haben 770 Mrd. Euro
Das Vermögen der privaten Haushalte beträgt in Österreich etwa 1.400 Mrd. Euro, davon sind ein Drittel Finanzvermögen, zwei Drittel Immobilienvermögen. Das oberste Zehntel der Haushalte, das sind die reichen Bevölkerungsschichten, die vom Einkommen aus Vermögen leben könnten, verfügen über ein Vermögen von 770 Mrd. Euro. In dieser sozialen Schicht besitzen mehr als 80 Prozent Aktien, 85 Prozent des Immobilienbesitzes, der nicht auf Hauptwohnsitze entfällt, wird in diesem Segment gehalten.
Sinnvoll sind eine allgemeine Vermögenssteuer auf sehr hohe Vermögensbestände, die der Konzentration des Vermögens entgegenwirkt; eine Erhöhung der Grundsteuer, deren Aufkommen für die Finanzierung des Ausbaus sozialer Dienstleistungen der Gemeinden und Städte zweckgebunden wird; die Wiedereinführung einer Erbschaftssteuer, die einen Beitrag zur Verbesserung der Chancengleichheit zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten leistet.
Ein drittes Element emanzipatorischer Wirtschaftspolitik bildet die Verkürzung der geleisteten Arbeitszeit. Viele EU-Länder haben mit Maßnahmen der Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Beruf und Weiterbildung in den vergangenen Jahren innovative Formen der Arbeitszeitpolitik umgesetzt. Die Verkürzung der Arbeitszeit leistet einen Beitrag zur Erreichung von Vollbeschäftigung und stellt die wichtigste Möglichkeit dar, den hohen gesellschaftlichen Wohlstand für die ArbeitnehmerInnen in Form von mehr Freizeit und besserer Lebensqualität zu nutzen.
Sozialer Fortschritt möglich
Die von Banken und Finanzmärkten ausgelöste Finanzkrise hat gezeigt, wie instabil eine deregulierte und von Finanzmärkten dominierte Marktwirtschaft ist. Doch selbst nach der Finanzkrise ist der Wohlstand in unserer Gesellschaft so hoch, dass sozialer Fortschritt für alle Menschen möglich ist: Eine merkliche Besteuerung von Vermögensbeständen, der Ausbau des Sozialstaates und die Verkürzung der Arbeitszeit bilden die richtigen Antworten auf die Krise und sind die wichtigsten Elemente eines emanzipatorischen politischen Projekts.
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Von Markus Marterbauer (AK Wien – Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2011.
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