Die größte NGO der Welt

Alle ÖGB-Präsidenten stellten beim Antritt neuer Regierungen klar: »Die Gewerkschaft wird die neue Regierung danach beurteilen, in welchem Maß sie die Interessen der ArbeitnehmerInnen berücksichtigt.« Denn jede Gewerkschaftsbewegung, die diesen Namen verdient, besteht auf einer klaren Trennlinie zum Staat. Sie ist eine NGO, eine »nichtstaatliche Organisation«, und muss es auch sein, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Das bedeutet keineswegs den Verzicht auf Einmischung in die Politik, aber es bedeutet, dass das politische Handeln der Gewerkschaftsbewegung ausschließlich dem Interesse der ArbeiterInnen, Angestellten und der anderen abhängig Erwerbstätigen verpflichtet ist.

Überall, wo sich ArbeiterInnen erstmals aus freier Entscheidung zu Gewerkschaften zusammenschlossen, geschah dies in Konfrontation mit undemokratischen Regierungen, deren Sozialpolitik sich, wenn sie überhaupt stattfand, darauf beschränkte, soziale Unruhen zu vermeiden. Auch in Österreich gehörte einmal der Einsatz von Militär und Polizei gegen Streikende zur staatlichen Routine – und in Ländern, in denen Diktatur herrscht oder Demokratie nur auf dem Papier steht, hat sich daran bis heute nichts geändert.

Zur Zeit, als Österreich von einem Kaiserregime regiert wurde, entschlossen sich mutige Menschen in den Fabriken, Werkstätten, Läden und Büros, den Kampf gegen das soziale Elend nicht mehr einigen engagierten GönnerInnen und weit blickenden UnternehmerInnen zu überlassen. Sie begannen selbst, für bessere Löhne und gegen ihre Rechtlosigkeit zu kämpfen. Und sie schufen ein soziales Netz, das vielfach Vorbild für die staatliche Sozialpolitik wurde.

Aus dem Jahr 1907 ist uns eine Bildstatistik erhalten, die dokumentiert, was das gewerkschaftliche Unterstützungswesen damals alles umfasste. Aus dem alten Unterstützungsnetzwerk der Handwerksgesellen war die Reiseunterstützung hervorgegangen. Angesichts des Zwangs zum häufigen Arbeitsplatzwechsel blieb sie lange ein wichtiges soziales Instrument. An erster Stelle stand aber die Arbeitslosenunterstützung, weil ja jede staatliche Absicherung fehlte. Dann folgte schon an zweiter Stelle der Begräbniskostenbeitrag – vor allem wegen der hohen Kinder- und Frauensterblichkeit eine spürbare Entlastung für die Familien. Dort, wo das Gesundheitsrisiko besonders hoch war, reichten die mittlerweile gesetzlich eingeführten Leistungen der Kranken- und Unfallversicherung in keiner Weise aus, und eine Arbeiterpension gab es so wenig wie Arbeitslosenversicherung. Deshalb spielte etwa bei den ChemiearbeiterInnen oder bei den BauarbeiterInnen die zusätzliche gewerkschaftliche Unterstützung in Notfällen eine große Rolle.

Durch die gegenseitige Anerkennung der Ansprüche wuchs ein soziales Netz, das sich über das riesige Gebiet der Habsburgermonarchie ausbreitete. Die Behörden sahen es nicht gerne, sie befürchteten die Erleichterung »staatsgefährdender Umtriebe«. Und so Unrecht hatten sie nicht: Die ArbeiterInnenbewegung nutzte dieses Netzwerk in ihrem Kampf für Demokratie und Gleichberechtigung.

Dr. Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

Von

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion
aw@oegb.at

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.