Privileg der Ausbeutung

Arbeit&Wirtschaft: Susan George, sie sind Präsidentin des TNI und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von »Attac«. Ist soziale Gerechtigkeit Teil der Wissenschaft? Welche Rolle spielen »Think Tanks«?

Susan George: Es sind Ideen, die die Geschichte lenken. »Think Tanks« sind das Mittel, Ideen auf die Agenda zu bringen. Die meisten vertreten eine Ideologie, aber beim Transnational Institute ist es zumindest eine großzügige, im Gegensatz zu den »Think Tanks« des rechten Flügels. Soziale Gerechtigkeit ist nicht unbedingt ein Teil der Wissenschaft, aber es ist empirisch nachzuweisen, dass Gesellschaften mit höherer sozialer Gerechtigkeit erfolgreicher sind, gemessen nach vielen Kriterien, etwa besserer Gesundheit, höherem Bildungsniveau, weniger Haftinsassen oder längerer Lebenserwartung.

Gewerkschaften sind ein wichtiger Teil der Bewegung für globale Gerechtigkeit. Wie kann ihre Rolle im Kampf der neuen Formen von Ausbeutung gestärkt werden, wenn die Mitgliederzahl sinkt?

Die Gewerkschaften haben es noch nicht verstanden, dass es in einer globalisierten Welt, wo gewöhnliche Arbeitskräfte immer weniger gebraucht werden, beinahe ein Privileg ist, ausgebeutet zu werden. Es tut mir leid, so brutal zu antworten, aber Millionen von Menschen werden nicht mehr gebraucht. Jene mit regulärer, solid verankerter Anstellung sind heute in der Minderheit. Die Gewerkschaften sollten sich öffnen, auch gegenüber der prekären Arbeit, der Gelegenheitsarbeit, den Arbeitslosen, den Ausgeschlossenen, all jenen, die arbeiten wollen, denen es aber unter angemessenen Bedingungen nicht möglich ist. Das ist der Weg, um eine Bewegung zu schaffen, und die Anliegen der arbeitenden Menschen auf die Agenda zu bringen, national und international. Wenn die Zahl der Mitglieder sinkt, hat das einen oder mehrere Gründe. Wer die Frage nach dem »Warum« beantwortet, findet einen Weg, dem zu begegnen.

Wenn man die Köpfe der Menschen besetzen kann, werden ihre Herzen und Hände folgen, zitieren Sie Antonio Gramsci, und weiter, die ideologische Arbeit der Rechten wäre absolut brillant. Ist die Öffentlichkeitsarbeit, sind die Aktionen der Gewerkschaften zeitgemäß?

Leider nicht. Wie die Linke, haben sich auch die Gewerkschaften auf ihre traditionelle Arbeit konzentriert und nicht bemerkt, wie die Rechte daran gearbeitet hat, all die Forderungen und Leistungen der Arbeitnehmervertretungen über mehr als hundert Jahre als radikal und unfair erscheinen zu lassen. Schauen Sie nach Frankreich: Hier fährt sie gut damit, die Bahnbediensteten als »privilegiert« zu bezeichnen, sie hat viele ArbeitnehmerInnen dazu gebracht, die extreme Rechte zu wählen. In den USA ist es sogar jetzt, mit einem demokratischen Kongress, extrem schwer, den »Employee Free Choice Act« durchzubringen, der das Recht auf Gewerkschaftszugehörigkeit verankert. Die UnternehmerInnen können es verweigern und das erscheint der Mehrheit als »normal«.
In den vorigen 30 Jahren haben die Linke und die Gewerkschaften traditionelle Methoden angewendet, wie Straßendemos. Wirklich notwendige und originelle Ideen werden nicht verfolgt. Etwa solche, wie beim englischen Luftfahrtkonzern Lucas Aerospace in den 1970er-Jahren. Oder Ideen am Rande zur Radikalität, wie Werksbesetzungen, gewaltlose Entführungen von Managern …
Das verschärft europaweit das Problem der Aufspaltung zwischen der sanftmütigen, milden Sozialdemokratie, die bei jeder Privatisierung mitgemacht und schrittweise ihre traditionell offensiven Kämpfe aufgegeben hat, und der »left of the left«, die offensivere Aktionen will und meint, dass die traditionelle Arbeiterbewegung sie im Stich lässt.

Im Oktober 2001 haben Sie am Attac-Kongress »Globalisierung ist kein Schicksal. Eine andere Welt ist möglich.« teilgenommen. Worin bestanden die größten Erfolge der Bewegung für globale Gerechtigkeit?

Ich habe ein Buch mit dem Titel »Eine andere Welt ist möglich, sofern …« geschrieben, wobei das wichtigste Wort »sofern« ist. Aus irgendeinem Grund haben die Herausgeber auf Deutsch dafür optiert, dem Buch den englischen Titel »Change it!« zu geben. Und, sofern ich mich recht erinnere, wurden auch ein oder zwei Kapitel ausgelassen. Die Tatsache, dass eine alternative Globalisierungsbewegung überhaupt existiert, ist ein Erfolg.
Das Prinzip der internationalen Besteuerung wird immer mehr akzeptiert. Mit der Finanzkrise gelten viele unserer Ideen als vernünftig, etwa die Banken unter Kontrolle zu bringen oder Steueroasen zu schließen. Aber die G-20 haben die Natur der Krise nicht verstanden, wir werden mehr davon brauchen, bevor eine wirkliche Veränderung stattfindet.
Ich bin gespannt, was in Kopenhagen zum Klimawandel geschieht. Das ist die wichtigste Sache der Welt. Wenn er sich einmal vollzogen hat, gibt es kein Zurück. Kein »Oh! Wir hatten Unrecht, jetzt ändern wir uns«. Wir werden Millionen Umweltflüchtlinge haben, völlig neue Probleme mit Nahrung, Wasser, Krankheit und Arbeit. Gewerkschaften sollten massiv für eine ökologische Umkehr kämpfen, weil eine grüne Wirtschaft fantastische Arbeitsmöglichkeiten bietet – gute Arbeitsplätze, die nicht so leicht ausgelagert werden können.

Und die Rückschläge der Bewegung?

Der Lissaboner Vertrag, das neoliberalste Dokument seit dem »Washington Konsens«. Wir verpassen die Chance für ein soziales, demokratisches und ökologisches Europa. Das ist eine Tragödie. Auch haben wir weder die Schulden des Südens aufgehoben noch unsere Beziehungen zu den armen Ländern verändert.
Und natürlich: Der Vertrag verpflichtet uns zur Steigerung unserer militärischen Kapazität. Wir bekommen eine Marktgesellschaft, die auf freier Bewegung des Kapitals, der Verschlechterung der ArbeitnehmerInnenrechte, einer undemokratischen unverantwortlichen Führerschaft und einem der Nato, und damit den USA, unterstehenden Militär beruht.

Ihr »satirisches« Buch »Lugano-Report« wurde von einigen LeserInnen für Wirklichkeit gehalten. Was könnte die Dominanz des Neoliberalismus »gefährden«?

Ja, der »Bericht« ist heute wahrer als vor zehn Jahren, als ich ihn geschrieben habe. Es wird mehr Krisen geben. Der neoliberale Kapitalismus wird einige Privilegien aufgeben müssen, aber sie könnten durch unterschiedliche Formen von Faschismen ersetzt werden. Ich vertraue aber der Intelligenz der Menschen, die bereit sind, in neuen Bahnen zu denken, sich zu organisieren und Grenzen zu überschreiten, um Allianzen zu bilden.

Es gäbe gute Nachrichten, haben Sie in Ihrem Buch »Change it!« geschrieben: »Es ist genug Geld da.« Wohin ist das Geld mit der Krise verschwunden?

Das Geld ist noch da, aber es ist in Steueroasen und an der Pyramidenspitze konzentriert. Weniger als zehn Millionen Menschen besitzen über 40 Trillionen Dollar: 40.000.000,000.000. Es ist auch unter Kontrolle der transnationalen Unternehmen. Die Staaten kommen ihm auf die Spur, sobald Banken in Schwierigkeit sind. Normale ArbeiterInnen werden die Schulden jahrzehntelang bezahlen. Wir sollten die Banken verstaatlichen und Kredite zum Allgemeingut machen.

Sie nannten einmal das Beispiel von Thomas Clarkson, der im 18. Jahrhundert durch Boykott erreichte, dass kein von Sklaven hergestellter Zucker mehr verkauft wurde. Worin liegt die Macht der KonsumentInnen heute?

Thomas Clarkson hat auch die Gesellschaft gegen die Sklaverei gegründet. Sie hat den Kampf gewonnen und Großbritannien dazu gebracht, nicht mehr am Sklavenhandel zu partizipieren. Er konnte das noch erleben. Alle Kämpfe, die es wert sind, brauchen eine lange Zeit. KonsumentInnen können immer noch Wunder bewirken, sofern sie politisiert sind. Sie haben eine große Rolle in Südafrika gespielt.

Wir danken für das Gespräch.
Das Interview führte Gabriele Müller

Zur Person
Dr. Susan George
Sie ist Autorin von 14 Büchern, Präsidentin des Transnational Institute, TNI, in Amsterdam und Ehrenpräsidentin von Attac-Frankreich.
Unter ihren Büchern sind: »Wie die andern sterben. Die wahren Ursachen des Welthungers.« »Sie sterben an unserem Geld. Die Verschuldung der Dritten Welt.« »Der Lugano-Report oder Ist der Kapitalismus noch zu retten?« »WTO: Demokratie statt Drakula. Für ein gerechtes Welthandelssystem« und »Change it! Anleitung zum politischen Ungehorsam.« In Frankreich war sie führend an der Verhinderung des Multilateralen Investitionsabkommens MAI und der daraus entstehenden Bewegung »GATS-freie Zonen« beteiligt. Susan George wurde in den USA geboren und lebt in Frankreich.
27. Oktober 2009, 19 Uhr, Bildungszentrum der AK-Wien. Susan George im Gespräch mit Armin Thurnher: Das Versprechen, der freie Welthandel bringe Wohlstand für alle, hat sich als Lüge erwiesen. Während trotz Krise die Reichen immer reicher werden, nimmt die Armut weltweit zu.

Weblinks
Transnationales Institut:
www.tni.org 
11. Wiener Stadtgespräch:
www.wienerstadtgespraech.at/susan-george

Kontakt
Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
gabriele.mueller@utanet.at
oder die Redaktion
aw@oegb.at

Von

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/2009.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Redaktion
aw@oegb.at

Du brauchst einen Perspektivenwechsel?

Dann melde dich hier an und erhalte einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.



Mit * markierte Felder sind Pflichtfelder. Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.