Derzeit scheint die US-amerikanische Wirtschaft etwas schneller aus der Rezession herauszufinden als Europa. Wie so oft in den vergangenen beiden Jahrzehnten wird der angeblich so starre europäische Sozialstaat dafür verantwortlich gemacht, dass die europäische Wirtschaft zu »unflexibel« wäre und der Konjunkturmotor daher nicht anspringen könne. Wie berechtigt ist dieser Vorwurf und welche Vor- und Nachteile haben denn nun wirklich die Sozialsysteme diesseits – und jenseits des Atlantiks?
In der Februar-Nummer dieses Jahres der »Arbeit&Wirtschaft« fand sich eine sehr ausführliche Beschreibung zum US-amerikanischen Sozialstaat. Die Details zum System finden sich also dort. Hier sollen nun die wichtigsten Ergebnisse einer Studie wiedergegeben werden, die ich im Herbst 2003 publiziert habe.1)
Unterschiedliche Entwicklung
Die USA unterschieden sich von Anbeginn an von Europa in der Entwicklung ihrer Sozialsysteme: In den USA hatte es keinen Feudalismus gegeben, der einerseits erste Formen der sozialen Verantwortung für die »Untertanen« ausgebildet hätte, und andererseits wie in Europa den Grundstein für den Klassenkampf gelegt hätte. Es hatte sich aber vor allem keine tragfähige Arbeiterbewegung herausgebildet, die wie in Europa Demokratie und Sozialpolitik gleichzeitig vorangetrieben hätte. Im 20. Jahrhundert hatte es zwar durch das New Deal (in den 1930er-Jahren) und die Great Society (in den 1960er-Jahren) eine leichte Annäherung an Europa gegeben, spätestens seit den 1980er-Jahren unter Reagan entfernte sich das US-Sozialsystem zunehmend vom europäischen Sozialmodell.
Es gibt zwar auch innerhalb Europas bzw. innerhalb der EU verschiedene sozialstaatliche Modelle mit unterschiedlichen Ergebnissen, gemeinsam ist ihnen aber allen bislang, dass umfassender Sozialschutz ein Grundrecht darstellt.
Wenig bundeseinheitliche Sozialpolitik in den USA
In den USA gibt es als bundesweit einheitliche staatliche Sozialpolitik eigentlich nur die Pensionsversicherung (social security), die tatsächlich große Teile der Bevölkerung umfasst.
Die staatliche Gesundheitspolitik in den USA umfasst hingegen nur die Armen und die Alten, wobei allerdings 32% der armen Bevölkerung bzw. 16% aller US-AmerikanerInnen gar nicht versichert sind. Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist gleichzeitig in Summe wesentlich teurer als das europäische, da es Spezialmedizin für privilegierte Gruppen bietet (und die ÄrztInnen noch dazu gezwungen sind, sich enorm hoch gegen Schadenersatzklagen zu versichern). Das Problem der ungleichen Verteilung der Gesundheitsleistungen auf die Bevölkerung wirkt sich durchaus sichtbar auf das Ergebnis aus (siehe Tabelle 1: »Das Gesundheitswesen im Vergleich«).
Das Gesundheitswesen im Vergleich | 1 | ||||
Öffentliche Gesundheits-ausgaben | Private Gesundheits-ausgaben | Gesundheits-ausgaben pro Kopf | Lebenserwartung bei Geburt | AIDS-Rate | |
in % des BIP | in US-$ | Jahre | % | ||
Schweden | 6,7 | 1,3 | 1.707 | 79,3 | 0,08 |
Niederlande | 6,0 | 2,5 | 1.974 | 77,9 | 0,19 |
Deutschland | 7,9 | 2,6 | 2.488 | 77,3 | 0,10 |
Österreich | 5,8 | 2,4 | 1.978 | 77,7 | 0,23 |
Italien | 5,6 | 2,6 | 1.830 | 78,2 | 0,35 |
Frankreich | 7,3 | 2,3 | 2.102 | 78,1 | 0,44 |
Großbritannien | 5,9 | 1,1 | 1.532 | 77,2 | 0,11 |
USA | 5,8 | 7,3 | 4.180 | 76,5 | 0,61 |
Quelle: UNO 2002 |
Die Arbeitslosenversicherung in den USA ist Angelegenheit der einzelnen Bundesstaaten und sehr unterschiedlich ausgestaltet, gleiches gilt für die Armuts- und Wohnpolitik. Familienpolitik im europäischen Sinn gibt es in den USA überhaupt nicht.
Träger der Sozialpolitik
Aus einem anderen Blickwinkel kann man sich ansehen, wer in Europa und wer in den USA zuständig für Sozialpolitik ist (siehe Tabelle 2: »Brutto- und Nettosozialausgaben 1997«).
Brutto- und Nettosozialausgaben 1997 (in % des BIP) |
2 | |||
Öffentliche Sozialausgaben | Gesamte Sozialausgaben | |||
Brutto | Netto | Brutto | Netto | |
Schweden | 35,7 | 28,5 | 39,1 | 30,6 |
Niederlande | 27,1 | 20,3 | 32,6 | 24,0 |
Deutschland | 29,2 | 27,2 | 31,6 | 28,8 |
Österreich | 28,5 | 23,4 | 30,3 | 24,6 |
Italien | 29,4 | 24,1 | 30,1 | 25,3 |
Frankreich | (keine Angaben) | – | – | – |
Großbritannien | 23,8 | 21,6 | 28,0 | 24,6 |
USA | 15,8 | 16,4 | 24,6 | 23,4 |
Quelle: OECD 2003 |
Tabelle 2 zeigt für ausgewählte europäische Länder und die USA, wieviel für Sozialangelegenheiten ausgegeben wird, sowohl von der öffentlichen Hand als auch privat. Es wird dabei unterschieden zwischen Brutto- und Nettoausgaben: Zweitere enthalten die Sozialabgaben und die Steuern auf Sozialleistungen ebenso wie steuerliche Vergünstigungen aufgrund bestimmter sozialer Tatbestände.
Der wichtigste Träger der Sozialpolitik ist in Europa der Staat, in den USA hat der Staat ebenfalls einen wichtigen Einfluss – allerdings sehr indirekt: Es gibt Absetzmöglichkeiten für private Versicherungen oder Kinderbetreuung, es gibt Kreditgarantien für Hauskauf, es gibt staatlich geförderte Ansparmöglichkeiten für die Finanzierung der Ausbildung etc. Diese »sozialpolitischen« Förderungen helfen allerdings wesentlich stärker der Mittel- und Oberschicht als den ärmsten Einkommensgruppen. Staatliche Sozialpolitik in den USA bedeutet also zu einem nicht unbeträchtlichen Teil eine Verteilung öffentlicher Mittel nach oben.
Privatwirtschaft
Eine besonders wichtige Rolle hat in den USA aber schon immer die Privatwirtschaft auch in sozialen Belangen gespielt. Einerseits erfolgt ein Großteil der Abdeckung sozialpolitischer Risiken über private Versicherungen, andererseits sind insbesondere in den größeren Unternehmen die MitarbeiterInnen über betriebliche Sozialpakete abgesichert. Diese betrieblichen Sozialleistungen wurden aber in den vergangenen Jahren deutlich zurückgeschraubt und dienen heute eher dazu, die hochqualifizierten MitarbeiterInnen im Unternehmen zu halten. Dieses System hat also eigentlich nur dann am besten und am umfassendsten funktioniert, als es auch in den USA die Regel war, ein Leben lang bei einem Unternehmen einen Vollzeitjob zu haben und die Konjunkturschwankungen nicht zu groß waren (siehe Tabelle 3: »Betriebliche Sozialabsicherung in den USA«).
Einkommensverteilung Die reichsten 10% verdienen … mal so viel wie die ärmsten 10% |
4 | ||
70er-Jahre | 80er-Jahre | 90er-Jahre | |
Schweden | 2,8 | 2,6 | 2,7 |
Niederlande | 2,7 | 2,8 | 3,2 |
Deutschland | – | 3,3 | 3,7 |
Österreich | – | 2,9 | 3,0 |
Italien | – | 3,8 | 4,6 |
Frankreich | – | 3,8 | 4,6 |
Großbritannien | 3,1 | 3,6 | 4,1 |
USA | 4,9 | 5,7 | 5,5 |
Quelle: Förster; Pearson 2002 |
Armut Armutsquoten in Prozent der Bevölkerung |
5 | ||
Mitte der 80er | Mitte der 90er | Langzeitarbeitslosigkeit | |
Schweden | 5,3 | 6,4 | 1,1 |
Niederlande | 3,4 | 6,3 | 0,8 |
Deutschland | 6,4 | 9,4 | 1,8 |
Österreich | 6,1 | 7,4 | – |
Italien | 10,3 | 14,2 | – |
Frankreich | 8,0 | 7,5 | – |
Großbritannien | 6,9 | 10,9 | 6,1 |
USA | 18,3 | 17,0 | 4,6 |
Quelle: OECD 2003 |
Das Auseinanderdriften der Einkommen in den USA geht inzwischen so weit, dass namhafte US-amerikanische Ökonomen das Entstehen einer Plutokratie sehen. Die Mittelschicht wird ausgehöhlt, während das oberste Prozent bzw. Zehntelprozent in den letzten Jahren aberwitzige Einkommenssteigerungen erfuhren. Diese Superreichen kaufen sich Politiker, Medien und die öffentliche Meinung und modellieren sich das Steuersystem zu ihren Gunsten. Die Moral dieser Gruppe lässt sich mit »anything goes« zusammenfassen (in etwa »alles ist erlaubt«).
USA – Nachzügler oder Vorbild?
Sind die USA nun ein Nachzügler in dem Sinn, dass die sozialpolitischen Outputs in Europa höher liegen oder ein Vorreiter bzw. Vorbild in dem Sinn, dass Europa erst lernen muss, neben der nationalstaatlichen Sozialpolitik noch andere Varianten sozialen Handelns zu lernen?
Die genannte Studie, die natürlich noch wesentlich tiefer ins Detail geht als hier ausgeführt, legt den Schluss nahe, dass die Antwort »weder-noch« heißt. Es handelt sich um unterschiedliche Systeme mit unterschiedlicher Geschichte. Während in den USA umfassende Sozialpolitik im 20. Jahrhundert von der Bundesebene nach unten gesickert ist (es wurden immer mehr Kompetenzen von Bundesebene an die einzelnen Bundesstaaten abgegeben), haben sich in Europa nationalstaatliche Sozialsysteme unterschiedlichster Prägung etabliert, und erst heute beginnt die Diskussion, welche Kompetenzen auf EU-Ebene verlagert werden sollten.
Es ist zurzeit unvorstellbar, dass sich die USA an dem europäischen Sozialmodell orientieren würden. Zu sehr wird die Politik von Gruppierungen bestimmt, die Werte wie Solidarität als Hemmschuh sehen und die von der eigenen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft als bestes Sprungbrett nach oben überzeugt sind. Außerdem wird in den USA seit jeher dem Staat misstraut. Die traditionellen Werte stellen wesentlich stärker darauf ab, »sein Leben selbst in die Hand zu nehmen«.
Demgegenüber steht die europäische Sicht, dass der Wohlfahrtsstaat die Freiheit des Einzelnen erhöhe, da man sich einerseits nicht selbst um die Absicherung der eigenen sozialen Risiken kümmern müsse, und man andererseits wisse, dass sich um die Ärmeren gekümmert wird. Während nämlich US-Amerikanern am ehesten in sozialpolitischen Belangen die Chancengleichheit (also die Ausgangsposition) wichtig ist, ist für die EuropäerInnen das Ergebnis sozialpolitischen Handelns (ausgeglichenere Einkommen, geringere Armut, etc.) wichtig.
Vorbilder in Europa
Daher sollte sich auch Europa seinerseits nicht zu sehr an den USA orientieren. Es gibt innerhalb Europas genügend Vorbilder. So schneiden die skandinavischen Staaten bei den meisten Wohlstandsindikatoren nach wie vor am besten ab (neben den bereits genannten betrifft dies auch die gesellschaftliche und materielle Position von Frauen, die Verteilung von Bildungschancen und -erfolgen und das allgemeine soziale Wohlbefinden). Nachzügler in Bezug auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts und insbesondere die Bedeutung der Wissensgesellschaft sind hingegen die eher »konservativ« orientierten Staaten Kontinentaleuropas (Deutschland, Österreich und die Mittelmeerländer). Sie werden zu sehr durch ihre vergangenheits-orientierte Sozialpolitik belastet. Während die angelsächsischen Länder voll auf Ausbildung setzen, haben die Skandinavier einen Mix, der Solidarität mit den Schwächeren in der Gesellschaft mit Verantwortung für die Zukunft nachhaltig vereint.
1) »USA und Europa – Ein Vergleich der Sozialsysteme«, veröffentlicht beim Österreichischen Institut für Internationale Politik, Arbeitspapier 46, Dezember 2003
F A Z I T
Keinesfalls sollte es in Europa zu einem Abbau des Sozialstaates kommen. Ein umfassender Sozialstaat, dem der Sozialschutz als Bürgerrecht zugrunde liegt, ist eines der wesentlichen konstitutiven Elemente Europas. Über einen Umbau darf und muss hingegen diskutiert werden, fernab von budgetären Rotstiften. Staaten, in denen sozialpolitische Verantwortung in höherem Ausmaß noch immer den Familien aufgebürdet wird, haben für die Zukunft weniger Chancen als jene, die ihre staatliche Verantwortung im Bildungsbereich wahrnehmen und offensiv die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Aufteilung ihrer wirtschaftlichen, politischen und familiären Aufgaben fördern. Dies können sich sowohl Europa als auch die USA ins Stammbuch schreiben.
Von Agnes Streissler (Mitarbeiterin in der Abteilung Wirtschaftswissenschaften der AK Wien)
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .
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