Durch die gesetzliche Sozialversicherung ist so gut wie jeder Österreicher und jede Österreicherin, ob Arbeiter, Angestellter, Bauer, Selbständiger, ob Kind oder Jugendlicher, ob erwerbslos oder in Pension, versichert – insgesamt acht Millionen Menschen. Die Beiträge dafür bringen die arbeitenden Menschen selbst auf. Das Budget der Sozialversicherung beträgt rund 36,4 Milliarden Euro (500 Milliarden Schilling). 97 Prozent davon (knapp drei Prozent macht der Verwaltungsaufwand aus) fließen in Form von Leistungen für die Versicherten zurück. In der Sozialversicherung wird kein Gewinn gemacht – absichtlich und im Interesse der Versicherten. Die SV ist der größte Non-Profit-Bereich Österreichs, ebenso wie in den anderen Sozialversicherungsländern Europas. Ihr Budget ist das zweitgrößte nach dem des Bundes.
Seit Jahren wird getrommelt: »Gesundheit muss uns mehr wert sein« oder »Krankheit wird zu teuer«. Hinter solchen Sprüchen steckt die Absicht der privaten Versicherungsunternehmen, der Banken und eines wachsenden Marktes von privaten Gesundheitsanbietern, mit unserer Gesundheit bzw. Krankheit immer höhere Gewinne zu erzielen. Das ist aber nicht möglich, solange es die Sozialversicherung gibt. Deshalb wird in der Öffentlichkeit von Überschuldung und Ineffizienz geredet, um sie leichter zerstören zu können.
Schröpfung
Aber das ist nicht alles. Statt durch eine Verbreiterung der Beitragsgrundlage die finanziellen Probleme der Gebietskrankenkassen in den Griff zu bekommen, wurden die Kassen in den letzen Jahren vom Gesetzgeber sogar noch zusätzlich zur Kasse gebeten. Sie sollen auch noch zur Erreichung des »Nulldefizits«, zur Spitalsfinanzierung und durch Senkung der Dienstgeber-Beiträge obendrein auch noch zur Entlastung der Unternehmen beitragen. Auf der anderen Seite fallen für die Gebietskrankenkassen auf der Seite der Einnahmen durch die steigenden Arbeitslosenzahlen erhebliche Beträge aus.
Man kann derzeit von einer ausgesprochenen Miesmacherkampagne sprechen. Dazu kommen Schikanen wie etwa die ungerechtfertigte Sonderprüfung der Wiener Gebietskrankenkasse und eine systematische finanziellen Aushungerung. Im Jahr 2001 wurde außerdem mit der »Strukturreform« des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger begonnen, die Sozialversicherung organisatorisch zu demontieren. Da der Verfassungsgerichtshof diese »Reform« aufgehoben hat, soll nun mit Hilfe der »Gesundheitsagenturen« die gesetzliche Sozialversicherung zerschlagen werden: Über die Länder soll ein möglichst großer Teil des 36,4-Milliarden-Budgets der Sozialversicherung zum privaten Gesundheitsmarkt umdirigiert werden. Der Schaden für die Versicherten wäre gigantisch, denn die Privaten bieten ihre Leistungen viel teurer an als die Sozialversicherung und haben einen wesentlich höheren Verwaltungsaufwand von bis zu 25 Prozent.
Defizit
Jüngstes Beispiel für die systematischen Versuche, die Sozialversicherung schlecht zu machen: Die Angriffe auf die Wiener Gebietskrankenkasse und deren Obmann Franz Bittner. Bittner spricht sich gegen Selbstbehalte aus, weil diese die Gesundheit für die Reichen billiger und für die Einkommensschwachen teurer machen würden. Nachdem sich alle Vorwürfe (ineffiziente Führung, zu teurer neuer Kassenvertrag mit den Wiener Ärzten, schlechte Finanzgebarung) in Luft auflösten und auch die Sonderprüfung durch das Gesundheitsministerium nicht das erhoffte Resultat brachte, musste zuletzt das Defizit des Hanusch-Krankenhauses, das der Wiener Gebietskrankenkasse gehört, als Angriffsziel herhalten. Dass in den letzten zehn Jahren unter allen Ausgaben der Wiener Gebietskasse die Ausgaben für Medikamente mit fast 90 Prozent Steigerung am stärksten stiegen, wird in der öffentlichen Debatte gerne verschwiegen. Schließlich handelt es sich hier um Ausgaben, die der Pharmaindustrie und den Apotheken, also der Privatwirtschaft, zugute kommen.
Tatsächlich weist die Wiener Gebietskrankenkasse für das Jahr 2003 ein Defizit von 196 Millionen Euro aus. Dieses wird zum Vorwand genommen, um den »Bankrott« und die »Unfähigkeit« der Sozialversicherung an die Wand zu malen. Doch Obmann Franz Bittner schätzt allein den Entfall von Beiträgen durch die ständig steigende Arbeitslosigkeit, dem die Regierung tatenlos zusieht, bei der Wiener Gebietskrankenkasse für das Jahr 2004 auf 64 Millionen Euro.
Licht ins Dunkel
Aber nicht nur durch die Arbeitslosigkeit gehen der Sozialversicherung Beiträge verloren. Um Licht ins Dunkel der Kassenfinanzierung zu bringen, richtete der Abgeordnete zum Nationalrat und Metaller-Gewerkschafter Franz Riepl an Sozialminister Herbert Haupt eine parlamentarische Anfrage, wie hoch eigentlich die Beitragsrückstände bei den Gebietskrankenkassen seien. Die Antwort des Sozialministers bewies, dass die Zahlungsrückstände der Unternehmen gewaltig viel zum Defizit der Gebietskrankenkassen beitragen.
Zahlungsrückstände 900 Millionen
Im Jahr 2003 sind die Arbeitgeberschulden bei den Gebietskrankenkassen bereits auf 897,2 Millionen Euro (12,35 Milliarden Schilling) angewachsen. Das waren um 52 Millionen Euro mehr als ein Jahr zuvor. Bei fast der Hälfte dieser Rückstände, 405 Millionen Euro, handelte es sich um von den Arbeitnehmern Monat für Monat einbehaltene, aber nicht eingezahlte Beiträge der Dienstnehmer. Ganz abgesehen davon, dass alle Sozialversicherungsbeiträge, ob Dienstnehmer- oder Dienstgeberbeitrag, von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden: Jedes verspätete Abführen von Dienstnehmerbeiträgen ist eine rechtswidrige Handlung, weil der Dienstgeber ja nur der Treuhänder dieser Beiträge ist, was auch Hans-Georg Kantner vom Kreditschutzverband von 1870 (KSV) bekräftigt. In nicht weniger als 1082 Fällen mussten die Kassen im Jahre 2003 Anzeige wegen Verstoß gegen die Vorschriften über die Einbehaltung und Einzahlung der Beiträge von Dienstnehmern durch die Dienstgeber nach § 114 ASVG erheben.
Rückstände: Defizit mal zwei
Am stärksten betroffen von den Unternehmerschulden ist die Wiener Gebietskrankenkasse, die besonders im Mittelpunkt der Angriffe von Regierung und Wirtschaftskammer steht. Für Franz Riepl ist das ein durchsichtiges Spiel: »Wenn ÖVP-Wirtschaftssprecher Mitterlehner fordert, speziell die Wiener Gebietskrankenkasse stärker unter Druck zu setzen, um mehr Reformbereitschaft einzufordern, sollte er sich einmal vor Augen halten, dass einige seiner Unternehmer der Gebietskrankenkasse allein in Wien bereits 328,8 Millionen Euro schulden.« Das ist fast doppelt soviel wie das von der Wiener Kasse ausgewiesene Defizit des Jahres 2003. Damit löst sich der Vorwurf der Ineffizienz in Luft auf. Regierung und der Wirtschaft verfahren ganz einfach nach der alten Methode »Haltet den Dieb«.
Aus den von Sozialminister Haupt vorgelegten Zahlen geht auch hervor, dass die Hälfte der Zahlungsrückstände auf Insolvenzen zurückzuführen ist. Dabei sind die Betriebe aus der Baubranche führend.
Erkennen, was gespielt wird
Riepl erklärt jede weitere Belastung der Versicherten und jede weitere Einschränkung der medizinischen Versorgung für nicht hinnehmbar, solange die Unternehmen den Kassen hunderte Millionen Euro schulden: »Würden alle Unternehmer ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge so pünktlich und genau abliefern wie die Arbeitnehmer und Pensionisten, dann hätten wir einen riesigen Spielraum für Sozialpolitik.« Viele Unternehmen sind ja nicht nur bei der Sozialversicherung lässige Zahler, sondern auch beim Staat, dem sie im Herbst des Vorjahres knapp 1,7 Milliarden Euro Steuern (23,4 Milliarden Schilling) schuldig waren. (Wirtschaftsblatt, 5.9.2003)
Da für viele Unternehmen das Zurückhalten der Sozialversicherungsbeiträge billiger ist als ein Kredit, fordert Franz Riepl, den Kassen entsprechende Instrumente in die Hand zu geben, um zu ihrem Geld zu kommen. Etwa durch Strafzuschläge oder höhere Zinsen für Beitragsschulden. Ein weiteres Mittel, der Sozialpolitik mehr Spielraum zu verschaffen, wäre eine effizientere Bekämpfung der Schwarzarbeit und des Schwarzunternehmertums. Riepl: »Seit der Zeit von Sozialministerin Hostasch liegt ein diesbezüglicher Gesetzesvorschlag im Parlament. Die Regierung verschleppt aber die notwendige gesetzliche Regelung.«
Die Regierung arbeitet, so Riepl, »nicht an einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung, sondern bloß an politischer Einflussnahme. Obwohl das Funktionieren der sozialen Systeme kompliziert ist, erkennen die Menschen, was hier gespielt wird. Das zeigen auch die Ergebnisse der AK-Wahlen.«
Von W. Leisch
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