Kommentar | »Wo bleibt euer Aufschrei?«

»Das Kapital hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert.«
»Die Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.«

Karl Marx/Friedrich Engels, 1848,
»Manifest der Kommunistischen Partei«

146 Jahre später warten in Deutschland – als ob es nie eine Zivilisierung des Klassenkampfes gegeben hätte – zehntausende von Arbeitern auf den nächsten Schlag aus den Konzernetagen von General Motors, Aventis, Volkswagen und Continental, der sie in die Arbeitslosigkeit und anschließend mit Hilfe der Politik auf die unterste Sprosse der sozialen Stufenleiter befördert.

Nicht das Gespenst des Kommunismus, vielmehr die Angst geht um in Europa – gepaart mit Wut, Abscheu und tiefem Misstrauen gegenüber den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten, die ähnlich den Verantwortlichen in der Zeit des Übergangs vom Feudalismus in die Industriegesellschaft offensichtlich unfähig sind, die unausweichliche Globalisierung der Ökonomie human zu gestalten.

Unter Berufung auf angebliche Gesetze des Marktes reden sie vielmehr einer anarchischen Wirtschaftsordnung, die über Leichen geht, das Wort. 100 Millionen von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen in Europa und den USA und 3 Milliarden Arme, die zusammen ein geringeres Einkommen haben als die 400 reichsten Familien der Erde, klagen an: die Adepten einer Shareholder-Value-Ökonomie, die keine Werte kennt jenseits von Angebot und Nachfrage, Spekulanten begünstigt und langfristige Investoren behindert. Sie klagen an: die Staatsmänner der westlichen Welt, die sich von den multinationalen Konzernen erpressen und gegeneinander ausspielen lassen. Sie klagen an: ein Meinungskartell von Ökonomieprofessoren und Publizisten, die meinen, die menschliche Gesellschaft müsse funktionieren wie DaimlerChrysler, und die sich beharrlich weigern, anzuerkennen, dass der Markt geordnet werden muss, auch global Regeln einzuhalten sind und Lohndumping die Qualität der Arbeit und der Produkte zerstört.

Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Gewerkschaften, die angesichts der Massenarbeitslosigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Menschen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre Hirne zerfrisst. Die Menschen leben und arbeiten in einer globalisierten Ökonomie, die eine Welt der Anarchie ist – ohne Regeln, ohne Gesetze, ohne soziale Übereinkünfte, eine Welt, in der Unternehmen, Großbanken und der ganze »private Sektor« unreguliert agieren können. Die globalisierte Ökonomie ist auch eine Welt, in der Kriminelle und Drogendealer frei und ungebunden arbeiten und Terroristen Teilhaber an einer gigantischen Finanzindustrie sind und so ihre mörderischen Anschläge finanzieren.

Wo bleibt der Aufschrei der SPD, der CDU, der Kirchen gegen ein Wirtschaftssystem, in dem große Konzerne gesunde kleinere Firmen wie Kadus im Südschwarzwald mit Inventar und Menschen aufkaufen, als wären es Sklavenschiffe aus dem 18.Jahrhundert, sie dann zum Zwecke der Marktbereinigung oder zur Steigerung der Kapitalrendite und des Börsenwertes dichtmachen und damit die wirtschaftliche Existenz von tausenden mitsamt ihren Familien vernichten? Den Menschen zeigt sich die hässliche Fratze eines unsittlichen und auch ökonomisch falschen Kapitalismus, wenn der Börsenwert und die Managergehälter – an den Aktienkurs gekoppelt – umso höher steigen, je mehr Menschen wegrationalisiert werden. Der gerechte, aber hilflose Zorn der Lohnempfänger richtet sich gegen die schamlose Bereicherung von Managern, deren »Verdienst«, wie sogar die FAZ schreibt, darin besteht, dass sie durch schwere Fehler Milliarden von Anlagevermögen vernichtet und Arbeitsplätze zerstört haben.

Das Triumphgeheul des Bundesverbandes der Deutschen Industrie über die Billiglohnkonkurrenz aus dem Osten noch in den Ohren, müssen marginalisierte und von der Marginalisierung bedrohte Menschen sich vom politischen und ökonomischen Establishment als Neonazis und Kommunisten beschimpfen lassen, wenn sie radikale Parteien wählen, weil es keine Opposition mehr gibt und sie sich mit einer Großen Koalition konfrontiert sehen, die offensichtlich die Republik mit einem Metzgerladen verwechselt, in dem so tief ins soziale Fleisch geschnitten wird, dass das Blut nur so spritzt, anstatt durch Bürgerversicherung und Steuerfinanzierung die Löhne endlich von den Lohnnebenkosten zu befreien. Nur Dummköpfe und Besserwisser können den Menschen weismachen wollen, man könne auf die Dauer Solidarität und Partnerschaft in einer Gesellschaft aufs Spiel setzen, ohne dafür irgendwann einen politischen Preis bezahlen zu müssen. Warum wird tabuisiert und totgeschwiegen, dass es eine Alternative gibt zum jetzigen Wirtschaftssystem: eine -internationale sozial-ökologische Marktwirtschaft mit geordnetem Wettbewerb?

Ideen verändern die Welt.

Auch in einer globalen Wirtschaft sind Produktion und Service ohne Menschen nicht möglich. Neue Produktionsfaktoren wie Kreativität und Wissen sind hinzugekommen. Aber das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Kapital ist geblieben. Die Kommunisten wollten den Konflikt lösen, indem sie das Kapital eliminierten und die Kapitaleigner liquidierten. Bekanntlich sind sie daran gescheitert. Heute eliminiert das Kapital die Arbeit. Der Kapitalismus liegt derzeit genauso falsch wie einst der Kommunismus.

Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.

Abdruck mit freundlicher Erlaubnis
aus »DIE ZEIT« 47/2004

Von Heiner Geissler (ehemaliger Generalsekretär der deutschen CDU und gehörte den deutschen Bundestagen an)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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