m Zuge der 2019 von der OECD durchgeführten Studie mit dem Titel „Negotiating our way up – Collective bargaining in a changing world of work“ werden die Effekte von kollektivvertraglichen Vereinbarungen und Mitbestimmungsformen der Beschäftigten untersucht und nationale Unterschiede diskutiert.
Die Bedeutung kollektiver Verhandlungen
Er wird zwar OECD-weit nicht überall Kollektivvertrag genannt (in Deutschland wird beispielsweise der Begriff „Tarifvertrag“ verwendet), aber kollektive Verhandlungen in der Arbeitswelt sind ein wichtiges Instrument, um die Rechte der arbeitenden Bevölkerung gegenüber ihren Arbeitgebern durchzusetzen. Im Zuge der Studie wird daher die Frage gestellt, wie kollektive Verhandlungen und betriebliche Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen dazu beitragen können, die Arbeitsqualität zu erhöhen. Natürlich liegt dies zunächst zu einem sehr großen Teil an den ausverhandelten Löhnen und Gehältern. Sozialpartnerschaften gehen in ihren Verhandlungen aber weit über die monetären Verbesserungen für die ArbeitnehmerInnen hinaus. Durch unterstützende Maßnahmen, Beratungen sowie den Zugang zu Weiterbildung und Umschulungen für arbeitslose Personen in Folge von Umstrukturierungen oder Massenentlassungen kann die Arbeitsmarktsicherheit erhöht werden.
Entwicklung der kollektivvertraglichen Abdeckung
Seit den 1980er-Jahren sind Kollektivvertragssysteme einem steigenden Druck ausgesetzt. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften, also jener Prozentteil der arbeitenden Bevölkerung, der Mitglied von Gewerkschaften ist, ist OECD-weit stark zurückgegangen – von durchschnittlich 33 Prozent 1975 auf lediglich 16 Prozent 2018. Bloß Island und Belgien stellen hier eine Ausnahme dar mit einem Zuwachs an Mitgliedern. Stabil blieb die Situation in Kanada, Südkorea und Norwegen. Die Spanne variiert sehr stark zwischen den einzelnen OECD-Ländern: Während in Estland nur 4,6 Prozent der ArbeitnehmerInnen Gewerkschaftsmitglieder sind, sind es in Island 91 Prozent.
Gleichermaßen gesunken ist auch der Anteil jener Personen, die innerhalb der OECD-Länder kollektivvertraglich abgedeckt sind: Waren 1985 noch 45 Prozent durch Kollektivverträge erfasst, so sind es 2017 nur noch 32 Prozent. Am stärksten gesunken ist der Anteil in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Australien, Neuseeland, Großbritannien und Griechenland.
Die Studie unterstreicht jedoch die Wichtigkeit, kollektivvertragliche Verhandlungen aufrechtzuerhalten und die nationalen Systeme an die neuen Herausforderungen anzupassen. Denn sieht man sich die andere Seite an, also Arbeitgeber, die Mitglied eines Arbeitgeberverbandes oder einer unternehmerischen Interessenvertretung sind, so ist diese deutlich höher und liegt im OECD-Durchschnitt bei 59 Prozent. Diese Zahl ist über die letzten 15 Jahre hinweg auch stabil geblieben. Schwenken wir den Blick auf Österreich: Hier ist die Zahl OECD-weit am höchsten, da alle gewerblich tätigen Wirtschaftstreibenden aufgrund des Wirtschaftskammergesetzes Mitglieder der Wirtschaftskammer sind (gesetzliche Mitgliedschaft).
Art der Mitbestimmung
Neben der kollektivvertraglichen Ausverhandlung von Arbeitsbedingungen, die landesweit oder branchenweit Gültigkeit haben, sind auch verschiedene Formen der Mitbestimmung auf Unternehmensebene bzw. Arbeitsplatzebene in den unterschiedlichen OECD-Ländern zu finden. Diese stellen für viele ArbeitnehmerInnen einen wichtigen Bestandteil des Arbeitslebens dar. In der Gestaltung der Mitbestimmungsrechte von Belegschaften gibt es nationale Unterschiede: Sehr häufig sind vertretende Institutionen eingerichtet wie beispielsweise durch gewerkschaftliche VertreterInnen (entweder durch die Gewerkschaft ernannt oder von den Beschäftigten gewählt), durch BetriebsrätInnen (gegründete Körperschaften, gewählt oder ernannt durch die Beschäftigten eines Unternehmens, unabhängig davon, ob sie Mitglied einer Gewerkschaft sind oder nicht) oder durch ArbeitnehmervertreterInnen (entweder Gewerkschaftsmitglieder oder unabhängig). Der Umfang der Services, die von diesen ArbeitnehmervertreterInnen angeboten werden, unterscheidet sich je nach Land: von Auskunft und Informationsbereitstellung über Beratung bis hin zu Mitbestimmung.
Aufgrund der sehr unterschiedlichen Verhandlungssysteme in den einzelnen in der Studie erfassten Ländern ist es sehr schwierig, diese zu vergleichen. Auch wenn manche von ihnen oberflächlich betrachtet ähnlich wirken, können sich die Vorgehensweisen und Praktiken stark voneinander unterscheiden und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen: „Grasping the full complexities of bargaining systems also allows distinguising between systems which are only apparently similar, but which in fact largely vary in practice, and are therefore likely to yield contrasted outcomes.“
Unterschiede gibt es vor allem bei der Art der Koordination, dem Ausmaß der Flexibilität (Opt-outs, Günstigkeitsprinzip), der Ebene (national, auf Branchenebene, auf Firmenebene) und der Abdeckung. Verhandelt werden einerseits die Gehälter und Löhne, aber auch andere Arbeitsbedingungen.
Bedeutung kollektiver Verhandlungen für Löhne und Gehälter
Die Studie hat ergeben, dass durch Verhandlungen auf Firmenebene die Löhne und Gehälter der Beschäftigten höher sind als bei jenen ArbeitnehmerInnen, für die branchenspezifisch verhandelt wird, bzw. jenen, die von gar keinen Verhandlungen profitieren. Vergleicht man die Kollektivvertragssysteme der unterschiedlichen Länder, sind koordinierte Systeme (inklusive Systemen mit organisierter Dezentralisierung) jene, die am stärksten zu hoher Beschäftigung und niedriger Arbeitslosigkeit führen. Zudem ist die Streuung von Gehältern und Löhnen, also die Spanne zwischen den einzelnen Einkommen, höher, wenn es keine Systeme von kollektiven Verhandlungen gibt oder Firmen ihre Löhne und Gehälter unabhängig festsetzen.
Bedeutung kollektiver Verhandlungen für Arbeitsbedingungen
Im Rahmen der Studie wurde ebenfalls untersucht, welche Rolle Sozialpartner in Bezug auf die Job- und Arbeitsplatzqualität haben können. Auf Länderebene wurde festgestellt, dass die Qualität der Arbeitsumgebung in jenen Ländern höher ist, in denen Sozialpartner gut organisiert und viele Leute von Kollektivverträgen erfasst sind. Das führt beispielsweise zu höherer Autonomie der Beschäftigten sowie größerer Arbeitszeitflexibilität.
In Bezug auf die Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sind in allen OECD-Ländern detaillierte Mindeststandards für Sicherheitsvorkehrungen gesetzlich vorgegeben, von denen auch kollektive Vereinbarungen nicht abweichen dürfen. Dennoch können Sozialpartner und ArbeitnehmervertreterInnen dazu beitragen, dass mehr Informationen darüber den ArbeitnehmerInnen zugänglich gemacht werden. Außerdem können sie als Kommunikationskanal bei Problemen dienen und zur Lösung dieser beitragen sowie auch dafür sorgen, dass sich die Standards verbessern oder im Unternehmen umgesetzt werden.
In Bezug auf die Arbeitszeit können Sozialpartner und ArbeitnehmervertreterInnen dafür sorgen, dass die Arbeitszeiten, aber auch die Arbeitszeitflexibilität branchenspezifisch ausverhandelt werden. Eine ausgewogene Work-Life-Balance ist immer mehr Bestandteil von Verhandlungen.
Eine weitere Komponente von Arbeitsbedingungen sind Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Der Zugang zu diesen Maßnahmen ist überall dort höher, wo es ArbeitnehmervertreterInnen gibt. Allerdings haben OECD-weit nur 15 Prozent der Firmen eine Vereinbarung, die Weiterbildungsmaßnahmen enthält.
In Bezug auf Diskriminierung oder Einschüchterung am Arbeitsplatz hat die Studie gezeigt, dass jene europäischen Länder, die direkte oder gemischte Formen von ArbeitnehmerInnenvertretungen haben, weniger Fälle von Diskriminierung aufweisen.
Mitbestimmung der Zukunft
Die Arbeitswelt verändert sich – das steht außer Frage. Der demografische und technologische Wandel bringt neue Herausforderungen mit sich, die durch kollektive Verhandlungen und Mitbestimmung abgefedert werden können, so die Studie: „Collective bargaining and workers’ voice can help addressing the challanges posed by a changing world of work.“ Dabei geht es darum, Löhne und Gehälter, die Arbeitszeit, die Arbeitsorganisation, aber auch die Aufgaben flexibel anzupassen. Es geht aber auch darum, neue Rechte zu formen, die bestehenden zu adaptieren, den Einsatz neuer Technologien zu regulieren und den ArbeitnehmerInnen aktive Unterstützung zu bieten, wenn diese in einen neuen Job wechseln, sowie zur Aneignung der geforderten Qualifikationen zu verhelfen.
Da aber in den letzten Jahren die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den OECD-Ländern zurückgegangen ist und sich zunehmend neue, atypische Beschäftigungsformen entwickelt haben, die keine entsprechende ArbeitnehmerInnenvertretung haben, ergeben sich zunehmend Schwierigkeiten im Bereich der Mitbestimmung. Daher braucht es Systemanpassungen und die Inklusion atypisch Beschäftigter und falsch kategorisierter Selbstständiger in kollektive Verhandlungen, um ihren Stimmen Gewicht zu geben und für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen.