LEBENS LANGES LERNEN | Valencia & Barcelona: LLL als neues Schwerpunktthema der Sozialpartner

Donnerstag, 15. Feber 2002, Aeroport de Barcelona. Ma- ria Helena André, Bundessekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes und Organisatorin der 1. Konferenz des EGB über LLL (lebenslanges Lernen), geht an Bord des Fluges IB 1344 nach Valencia. Kollegin André ist Portugiesin, in erster Linie allerdings Europäerin, sie spricht neben portugiesisch, spanisch, französisch, italienisch, englisch und deutsch.

Auch ihre Mitarbeiterinnen Roxane Bertolini und Naomi Benchaya sind mehrsprachig. Der Europäische Rat von Barcelona empfahl übrigens den Mitgliedstaaten einen Monat später, »Fremdsprachenunterricht in mindestens zwei Sprachen vom jüngsten Kindesalter an« einzuführen, das sei nur konsequent im multilingualen Europa.

Warum eigentlich diese Konferenz in Valencia? »Porque e importante conseguir uma posição antes Barcelona?« Weil es wichtig ist, vor dem Gipfel von Barcelona eine Position zu erarbeiten, nämlich die der Arbeitnehmervertreter, »e indicar que tomamus parte na discussão«, und klarzustellen, dass die Gewerkschaften dabei sind, wenn in Barcelona über LLL diskutiert wird.

An die 100 Frauen und Männer, Gewerkschafter und Funktionäre aus 28 Ländern, waren der gleichen Meinung, zahlreiche Vertreter der Europäischen Kommission sowie der Wissenschaft rundeten das Teilnehmerfeld ab.

Ernst genommene Sozialpartner

Die Europäische Union misst ja mittlerweile, insbesondere seit dem Gipfel von Lissabon1), dem LLL eine entscheidende Rolle zu, um das selbst gesetzte Ziel – nämlich der »wettbewerbfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt« zu werden – auch tatsächlich zu erreichen.

Das in Folge des Lissabonner Gipfels entstandene EU-Memorandum über LLL (welches u. a. dazu aufforderte, »die Investitionen in Humanressourcen deutlich zu erhöhen«) führte nach einem intensiven Diskussionsprozess zum richtungweisenden Dokument »Einen europäischen Raum des LLL schaffen« (November 2001). Dass die EU dabei die Rolle der Sozialpartner sehr ernst nimmt, sieht man allein schon daran, dass die Sozialpartner auf 30 Seiten 27-mal erwähnt werden – einige Beispiele:

  • Die Sozialpartner sollen »aktiv in alle relevanten
    Maßnahmen eingebunden werden«;
  • die Sozialpartner sollen sicherstellen, dass der
    Trend zu mehr Flexibilität von angemessenen Investitionen der
    Arbeitgeber in ihre Humanressourcen begleitet wird;
  • die Sozialpartner sollen auf allen Ebenen Vereinbarungen
    treffen und umsetzen, mit dem Blick auf höhere Investitionen
    in LLL und mehr Zeit für Lernen;
  • die Sozialpartner müssen dafür sorgen,
    dass »alle Beschäftigten gleiche Chancen beim Zugang zum
    Lernen im Betrieb« haben.

Die Kommission hat sich jedenfalls darauf festgelegt, die »Anhörung der Sozialpartner zum LLL« fortzuführen.

Der europäische Rat begrüßt …

Der Europäische Rat begrüßte in Barcelona (15. und 16. März 2002) die Mitteilung der Kommission »Einen europäischen Raum des LLL schaffen« und rief die Sozialpartner dazu auf, »ihre Strategien auf den verschiedenen Ebenen – der europäischen, der nationalen, der regionalen und der lokalen Ebene – und in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen in den Dienst der Lissabonner Strategie und der Lissabonner Ziele zu stellen«. Barcelona legte außerdem als Ziel fest, »dass die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer weltweiten Qualitätsreferenz werden (!)«. Damit ist LLL sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene ein neues Schwerpunktthema der Sozialpartner (LLL ist übrigens auch in die europäische Beschäftigungsstrategie eingebettet, mit dem konkreten Bezug auf mehr und bessere Arbeitsplätze).

Arbeitnehmerinteressenvertretung ist nicht einfach

Zurück nach Valencia. Die Rolle der Arbeitnehmerinteressenvertretung ist nicht einfach. Die Gewerkschaften wären in erster Linie in die praktische Umsetzung des LLL am Arbeitsplatz involviert, und hier würden sie von der gesellschaftlichen Entwicklung fast überholt, sie seien mehr »Getriebene als Antreiber«, so Kollege Winfried Heidemann von der Hans-Böckler-Stiftung des DGB. Es sei eine schwierige Aufgabe, zu einer neuen Balance zwischen Sicherheit (security) und Flexibilität (flexibility) zu kommen – zur so genannten »flexi-curity«, so das Schlagwort, und Kollege Heidemann warnt auch vor der Entwicklung, dass die Regierungen das LLL zunehmend allein den Sozialpartnern überlassen könnten: Da die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht immer die gleichen seien, dauerten Verhandlungen oft zu lang, manchmal gebe es eben auch keine Vereinbarungen2), »eine aktivere Politik des Bundes ist daher wichtig«.

Auf den Punkt gebracht: Europa schafft es nicht ohne die Sozialpartner, aber die Sozialpartner können es auch nicht allein machen.

Kosten und Nutzen

Prof. Dieter Timmermann, Vorsitzender der vom deutschen Bundestag eingerichteten Expertenkommission zur Finanzierung des LLL, sieht ein zugrunde liegendes Problem darin, dass »nicht klar ist, wie sich der Nutzen des LLL aufteilt«. Daher wird über die Finanzierung vehement gestritten. Der Begriff »Investition« müsse allerdings sehr weit gefasst werden, es gehe dabei nicht nur ums Geld – natürlich spielt der Zeitaspekt, aber auch Fragen der Zertifizierung, Motivation und Arbeitsorganisation eine Rolle wie auch Qualitätsstandards, Transparenz und Information. Die Unternehmen sehen zurzeit eher den Kosten- und nicht den Nutzenaspekt der betrieblichen Weiterbildung. Und »keineswegs förderlich« für die Investitionen in LLL seien Tendenzen wie etwa Outsourcing, die Segmentierung in Kern- und Randbelegschaften oder die Null-Fehler-Toleranz3).

Lernkonten

Die Europäische Kommission selbst hat sich zum Thema LLL auch einiges vorgenommen, sie will z. B.

  • Modelle für individuelle Finanzierungspläne
    (»individuelle Lernkonten«) prüfen,
  • die Forschung über Nutzen, Kosten und Rentabilität
    von Bildungsinvestitionen fördern
  • sowie »europäische Qualitätsempfehlungen«
    ausarbeiten – entsprechende Einrichtungen sollen dann das »europäische
    Gütesiegel« erhalten, wichtig im Sinne des Konsumentenschutzes
    in der Weiterbildung.

35 Stunden jährlich

Tomas Niklasson von der Generaldirektion Bildung und Kultur unterstreicht in Valencia die Notwendigkeit, »to invest more and to invest better into lifelong learning« und bekräftigt die Forderung der Kommission an die Arbeitgeber, jedem Beschäftigten 35 Stunden Weiterbildung pro Jahr zu ermöglichen (!). So deutlich hat man das vorher noch nicht gehört seitens der Kommission, und man darf schon gespannt sein auf die Reaktionen der Arbeitgeberverbände.

Die Mitgliedstaaten wiederum sollen u. a., so die Empfehlung der Kommission,

  • eine Ausweitung des »Anspruchs auf (Pflicht-)Bildung«
    überlegen, das bedeutet: den unentgeltlichen Erwerb von Grundqualifikationen
    unabhängig vom Alter5);
  • konkrete, nationale Ziele festlegen, um die Investitionen
    in Humanressourcen insgesamt zu steigern,
  • Ressourcen von Schulen, Erwachsenenbildungs-Einrichtungen,
    Universitäten etc. als »multifunktionale Zentren für
    LLL« nutzen6).

150 Millionen

Bisher wurden in der gesamten Europäischen Union kaum Fortschritte hinsichtlich des LLL erzielt. So musste die Kommission in ihrem Bericht »Die Lissabonner Strategie – den Wandel herbeiführen« erst kürzlich feststellen: »Für die meisten Bürger ist das LLL immer noch nicht Teil der Lebenswirklichkeit geworden. Über 150 Millionen Menschen haben noch nicht einmal die Grundstufe einer höheren Schulbildung erreicht, nicht einmal jeder zehnte Erwerbstätige ist in das LLL einbezogen und fast 18% der Schulabbrecher erwerben keine zusätzlichen Qualifikationen.«

Mindestlevel nicht erreicht

Im Jahr 2005 wird in den OECD-Ländern mehr als ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer älter als 45 sein, das bedeutet, dass ein großer Teil des Arbeitskräftepotentials die Schule bzw. Erstausbildung vor mehr als 20 Jahren verlassen hat. Die International Adult Literacy Survey (IALS) hat gezeigt, dass selbst in den fortgeschrittensten Ländern der OECD ein beträchtlicher Anteil der Erwachsenen das in der heutigen Gesellschaft erforderliche Mindestlevel an Alphabetisierung (literacy skills) nicht erreicht. Aber ohne diese »Basisqualifikationen«7) fehlt natürlich die Grundlage für LLL.

Wer rutscht ins Abseits?

Kollege Anders Vind von der dänischen Gewerkschaft spricht von 200.000 Analphabeten sogar in Dänemark, welches traditionell immer viel in Bildung investiert hat. Es ist vollkommen klar, so auch Gordon Clark von der Kommission, dass LLL auch ein »huge risk of social exclusion« in sich birgt: wer daran nicht teilnehmen kann, rutscht ins Abseits. Zu Recht fordert daher das Memorandum des EGB zur spanischen Präsidentschaft die »recognition of the right of access to (lifelong) vocational training«. Die wissensbasierte Gesellschaft müsse für alle da sein, so Kollegin André in ihrem Schlusswort.

Auf europäischer Ebene ist die Diskussion über das LLL in den letzten zwei Jahren geradezu entflammt, Österreich und die österreichischen Sozialpartner müssen versuchen, diese »thermische Energie« zu nutzen und die erforderlichen Strukturen für LLL auf nationaler Ebene zu entwickeln. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Chancen der österreichischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich auf den europäischen Arbeitsmärkten bewegen zu können.

1) Siehe Norbert Templ: Strategie von Lissabon. Chancen und Voraussetzungen aus Arbeitnehmersicht, in: AW 4/2002, S. 26 ff.

2) Das betrifft nicht nur die Sozialpartner, wie Prof. Herbert Schmid, Mitglied des Europäischen Parlamentes, bestätigt: »Niemand stimmt gegen LLL, wenn es dann aber um konkrete Entscheidungen geht, ist die Übereinstimmung auf einmal weg.«

3) Prof. Timmermann hielt dazu auch am 24. Mai einen Vortrag in der AK Wien.

4) Portugal plant, im Jahr 2003 einen Anspruch auf 20 Stunden Weiterbildung pro Jahr einzuführen und diesen Anspruch im Jahr 2006 auf 35 Stunden auszuweiten.

5) Eine langjährige Forderung der AK, etwa das gebührenfreie Nachholen des Hauptschulabschlusses.

6) Ebenfalls eine AK-Forderung: die Einrichtung »multifunktionaler Bildungszentren«.

7) Zu den Basisqualifikationen zählen auch EDV- und Fremdsprachenkenntnisse sowie »social skills«

Von Michael Tölle (Mitarbeiter der Abteilung Weiterbildungspolitik der AK Wien)

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe .

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