Humanität mit Krise

Anfang Mai ist das 40 Meter lange Schiff Phoenix der privaten Flüchtlingsrettungsinitiative Moas in der kleinen Hafenstadt Marsa auf der Insel Malta ausgelaufen. Seither ist die Besatzung im Dauereinsatz: Allein in den ersten zwei Wochen konnten über 1.400 Menschen aus Seenot gerettet werden. Regina Catambrone, die gemeinsam mit ihrem Mann Christopher die Initiative ins Leben gerufen hat, hält ihre Emotion nicht zurück: „Es ist ein Kampf gegen die Zeit. Heuer ist unsere Mission noch wichtiger, nachdem ‚Mare Nostrum‘ der italienischen Marine eingestellt wurde.“ Erstmals ist in diesem Jahr ein fünfköpfiges Team von „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) mit an Bord. Ein Krankenraum, in dem von Aspirin, Verbänden bis zu lebensrettenden Notfallmedikamenten alles vorhanden ist, wurde auf der ehemaligen Yacht eingerichtet. Das italienisch-amerikanische Unternehmerpaar, das 2006 auf Malta ein Versicherungsunternehmen gegründet hatte, beschloss nach der Flüchtlingskatastrophe von 2013, mit ihrem Privatvermögen die Mission zu starten. Damals ertranken über 350 Menschen vor der Insel Lampedusa. Die Phoenix ist mit zwei Schlauchbooten und zwei ferngesteuerten Hubschraubern ausgestattet. Dank der Helikopter-Drohnen – die „Augen von Moas“ – können Flüchtlingsboote auch bei Nacht, selbst bei starkem Seegang und in großer Entfernung aufgespürt werden. Die römische Tageszeitung „La Repubblica“ berichtete, dass durch Kameraaufnahmen der Drohnen auch vermeintliche Schlepper ausgeforscht werden konnten. Annahmen, die Catambrone nicht bestätigen kann: „Das erscheint mir schwierig. Wir haben Ermittlern Aufnahmen übergeben, die aus sehr großer Entfernung gemacht wurden. Aber wenn es gelang (Schlepper aufzufinden, Anm.), umso besser.“

Willkommenspakete
Die Rettungsmission kostet monatlich 400.000 Euro. Die Gesamtkosten der Mission betrugen im Vorjahr fast acht Millionen Euro. An Bord des Rettungsschiffes Phoenix erhalten die geretteten Menschen Willkommenspakete mit Wasserflaschen, Lebensmitteln, Handtüchern und Kleidung. Die lebensnotwendigen Utensilien wurden von Samuel und Saleh vorbereitet. Die beiden Männer wagten vor zwei Jahren selbst die Überfahrt von Libyen über das Mittelmeer in seeuntauglichen Booten. Kleine Wunder geben den HelferInnen Kraft und immer wieder Anlass zur Hoffnung, wie Regina Catambrone versichert: „Ich erinnere mich an das kleine Mädchen Honey aus Eritrea, das wir mit 40 Grad Fieber aus dem Meer zogen. Zwei Tage später begannen die Medikamente zu wirken und sie begann wieder zu essen und zu spielen. Das war eine der schönsten Erfahrungen in meinem Leben.“ Während der Sommermonate wird die Anzahl an verzweifelten Personen, die auf einer der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt ihr Leben riskieren, weiter rapide ansteigen.

Im April ereignete sich die bisher größte Katastrophe im Mittelmeer. 950 Menschen ertranken vor der libyschen Küste, nachdem ihr Boot während eines Rettungsmanövers gekentert war. Zuvor verhallten unzählige Appelle an Brüssel, das Flüchtlingsthema nicht allein auf den Schultern Südeuropas auszutragen, ungehört. Menschenrechtsorganisationen warnen vor weiteren Tragödien: Denn der EU-Plan, die Operation Triton (Frontex) aufzustocken, diene in erster Linie dem Grenzschutz und nicht der Rettung von Menschenleben. „Wir rechnen mit einer Serie von Tragödien, zuerst im Meer und dann bei der Aufnahme, wenn sich nicht bald etwas ändert. Man muss sich vorstellen, dass ein Land wie der Libanon mit 4,5 Millionen Einwohnern bereits 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Die EU mit 507 Millionen Einwohnern schafft es nicht, 150.000 Flüchtlinge, die vor Kriegen fliehen, unterzubringen? Es wird Zeit, dass Europa seinen Zynismus ablegt“, erklärt der Vorsitzende von „Ärzte ohne Grenzen“ in Italien, Loris De Filippi.

Strukturelles und politisches Problem
Seit vielen Jahren kritisiert De Filippi die katastrophale Lage in italienischen Aufnahmelagern. „Erst vor ein paar Wochen wurden die verheerenden Zustände in einem Flüchtlingslager in Kalabrien publik. Es handelt sich sowohl um ein strukturelles als auch um ein politisches Problem.“ Jahrelang hätte Italien eine Politik mit der fälschlichen Annahme verfolgt: Je schlechter die Aufnahme, desto weniger Leute werden kommen. Italien ist mit dem Ansturm klar überfordert. „Wir plädieren für ein temporäres Aussetzen der Dublin-II-Verordnung, wonach Flüchtlinge im ersten EU-Land, das sie betreten, ihren Asylantrag stellen müssen. Die Verantwortung muss auf alle 38 EU-Länder gerecht verteilt werden. Es kann nicht sein, dass ein reiches Land wie Norwegen nur 1.000 Flüchtlinge, das benachbarte Schweden wiederum europaweit die meisten Flüchtlinge aufnimmt“, so De Filippi.

Budgetbelastung
Die Regierung von Premier Matteo Renzi klagt hingegen über die hohe Budgetbelastung. Seit mehr als zwei Jahren steckt Italien in einer Rezession, die Industrieproduktion ist seit 2007 um etwa ein Viertel geschrumpft, drei bis vier Millionen Arbeitsplätze sind verloren gegangen. Dennoch bemühte man sich, so gut es geht, den Mittelmeer-Flüchtlingen einen humanen Empfang zu bereiten – und nahm dafür auch einiges an Geld in die Hand: 2014 hat Italien 630 Millionen Euro für Flüchtlinge ausgegeben. Heuer dürften die Ausgaben, so schätzt man, auf 800 Millionen Euro ansteigen. 34.000 Menschen, vor allem aus Syrien, Eritrea oder dem Sudan, sind laut offiziellen Angaben seit Jahresbeginn in Süditalien eingetroffen. 160.000 kamen im vergangenen Jahr an. Die meisten sehen Italien allerdings nur als Durchgangsstation. Sie wollen zu Verwandten und FreundInnen nach Deutschland, Frankreich oder in skandinavischen Ländern. Insgesamt rechnet man heuer mit einer Ankunft von 200.000 Flüchtlingen aus Afrika. Nach Angaben der italienischen Justiz würden bis zu einer Million Flüchtlinge in Libyen auf die Überfahrt nach Europa warten.

Im Hafen von Pozzallo auf Sizilien herrscht Hochbetrieb. An Bord eines italienischen Marineschiffes kamen allein am Wochenende über 1.500 Menschen an, ein Drittel davon sind Frauen und Kinder. „Viele von ihnen erlebten brutalste Gewalt und haben Eltern, Verwandte und Freunde verloren“, erzählt „Save the Children“-Verantwortlicher Valerio Neri. „Ich habe vor diesen Einsätzen nicht gewusst, was Horror bedeutet. Wir haben Leute gesehen, die wie Sardinen im Motorraum von Booten geschlichtet waren, ohne Luftzufuhr, inmitten von Fäkalien. Zuerst wollten wir die Fotos gar nicht veröffentlichen. Wir haben es schließlich doch getan, in der Hoffnung, damit das Bewusstsein vieler Leute wachzurütteln“, so Moas-Mitgründerin Regina Catambrone.
Die Hilfsorganisationen Caritas, Rotes Kreuz und andere freiwillige Helfer sind in sizilianischen Hafenstädten wie Catania, Palermo oder Pozzallo rund um die Uhr in Bereitschaftsdienst. „Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie diese Menschen ertrinken“, betont Caritas-Mitarbeiterin Angela. Auf Sizilien, einer der wirtschaftlich ärmsten Regionen in Europa, ist die Hilfsbereitschaft unter der Bevölkerung groß. „Wir Süditaliener wissen, was Emigration und das damit verbundene Leid bedeutet“, erinnert ein Palermer an seine Großeltern, die nach Deutschland auswanderten. Auch Palermos Caritas-Direktor, Don Sergio Mattaliano, der die Erstversorgung der Flüchtlinge koordiniert, appelliert: „Wir können nur mit vereinten Kräften Migranten helfen.“
Im 500 Kilometer entfernten Rom wartet man indessen auf grünes Licht der UNO für einen EU-Militäreinsatz in Libyen, dessen Führung Italien übernehmen will. Dabei sollen Boote von Schleppern vor der Abfahrt zerstört und so der Flüchtlingsstrom gestoppt werden. Außenminister Paolo Gentiloni zeigte sich jedoch vorsichtiger: „In Libyen wird es keinen Militäreinsatz geben.“ Das UN-Mandat würde dazu dienen, die Boote in Hoheitsgewässern Libyens zu identifizieren und sie anschließend zu beschlagnahmen oder zu zerstören.

Mahnung vor schlimmeren Tragödien
Selbst italienische Marineoffiziere halten es für unwahrscheinlich, dass die angekündigte Zerstörung den Flüchtlingsstrom stoppen würde. Denn wer vor Krieg und Gewalt fliehen muss, lässt sich nicht von einer riskanten Überfahrt abhalten. MenschenrechtsaktivistInnen schlagen Alarm: „Die Leute werden dann in noch unsicherere Boote steigen und es wird zu noch mehr Tragödien kommen.“ Der 22-jährige Sekou von der Elfenbeinküste, einer von 28 Überlebenden der Flüchtlingstragödie im April, drückt es drastisch aus: „Es ist besser, zu sterben, als so zu leben, wie wir vor unserer Reise gelebt haben.“

Internet
Private Rettungsinitiative MOAS:
www.moas.eu

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Von Irene Mayer-Kilani aus Rom. Freie Journalistin und Italien-Korrespondentin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/15.

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