Politik sollte sich von ihren Werten, Inhalten und Folgen leiten lassen, nicht von der reinen „Vermarktbarkeit“ auf der Kommunikationsebene.
Um dies zu verstehen, muss man einen Schritt zurückgehen. Denn der Vorwurf gründet auf einer Unterscheidung zwischen zwei Ebenen von Politik. Auf der einen geht es um ihre vordergründige Vermittlung. Auf der anderen um ihre hintergründigen Inhalte und die eigentliche politische Arbeit an der Gesetzgebung, die manchmal auch als „Sachpolitik“ bezeichnet wird. In repräsentativen Demokratien hängen beide Ebenen eng zusammen. Dass politische Inhalte besser verfangen, wenn sie in Schlagzeilen passen, kann deshalb auch eine Rückwirkung auf die Inhalte und die Qualität von Politik haben. Politik sollte sich von ihren Werten, Inhalten und Folgen leiten lassen, nicht von der reinen „Vermarktbarkeit“ auf der Kommunikationsebene. Schlagzeilenpolitik impliziert eine Politik großer Headlines ohne große Inhalte. Welche der beiden Ebenen die österreichische Politik dominiert, ist schwer zu sagen.
Mehr als leere Versprechen
Andere Wahrnehmung
Das Ergebnis ihrer Forschung steht also im Widerspruch zur Wahrnehmung vieler WählerInnen. Im Bereich der Sozialpolitik machte Praprotnik eine besonders interessante Feststellung: „Über die Parteigrenzen hinweg sind in diesem Politikbereich jeweils die meisten Wahlversprechen zu finden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass dabei kaum eine Kürzung, sondern vorwiegend eine Erweiterung des Wohlfahrtsstaats thematisiert wird.“ Eine weitere Feststellung lautet, dass „selbst die wenigen Einsparungsvorhaben nicht auf sofortige Einschnitte in bestehende Privilegien im Sozialsystem abzielen. Wahlversprechen zum Ausbau des Wohlfahrtsstaats werden ebenso häufig erfüllt wie Forderungen der übrigen Politikbereiche.“
Aufs Thema kommt’s an
Aus Sicht der Menschen
Ob der politische Diskurs und seine Schlagzeilen überhaupt das widerspiegeln, was die Menschen wirklich beschäftigt, ist eine weitere viel diskutierte Frage. Was die Menschen für wichtige Themen halten, wird im Rahmen des Eurobarometers erhoben, und zwar halbjährlich EU-weit. „Was sind Ihrer Meinung nach die beiden wichtigsten Probleme, denen Ihr Land derzeit gegenübersteht?“, wird dann gefragt. Aus vorgegebenen Themenkategorien können die Teilnehmenden auswählen. Im Juni 2019 wurden in Österreich am häufigsten die Themen „Steigende Preise, Inflation, Lebenshaltungskosten“; „Gesundheit und soziale Sicherheit“ sowie „Umwelt, Klima und Energie“ genannt.
Laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts SORA waren im letzten Nationalratswahlkampf die drei am häufigsten diskutierten Themen der Umwelt- und Klimaschutz, die Käuflichkeit der Politik nach „Ibiza“ sowie Gesundheit und Pflege.
Im damals beginnenden Nationalratswahlkampf spielte das Thema Inflation keine große Rolle. Um Gesundheit und soziale Sicherheit sowie um den Klimaschutz ging es allerdings sehr stark. Laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts SORA waren die drei am häufigsten diskutierten Themen der Umwelt- und Klimaschutz, die Käuflichkeit der Politik nach „Ibiza“ sowie Gesundheit und Pflege.
Weiterlesen lohnt sich
Der politische Diskurs bildet also durchaus ab, was die Gesellschaft beschäftigt. Und was in den Wahlprogrammen der Parteien steht, sollte man ernst nehmen. Was darin nicht erwähnt wird und dann trotzdem passiert, kann allerdings für die eine oder andere Überraschung und Enttäuschung sorgen.
Natürlich gibt es Politik, die den Namen Schlagzeilenpolitik verdient, und politische Kommunikation, die tatsächlich nichts anderes als Schlagzeilen und Berichterstattung zum Ziel hat; Dirty Campaigning, bei dem es bloß darum geht, politische KontrahentInnen in ein schlechtes Licht zu rücken; spektakuläre Pressemeldungen, die dazu dienen, den Fokus der Berichterstattung auf sich zu ziehen, zum Beispiel um von etwas abzulenken; inhaltsarme Fototermine und andere politische Hütchenspielertricks. Die Tagespolitik wird immer wieder von dieser kurzfristigen Schlagzeilenpolitik dominiert. Im Hintergrund geht es jedoch auch dabei immer um das, was in Parteiprogrammen nachzulesen ist, und meist auch um jene Themen, die der Gesellschaft wichtig sind. Das entgeht leider jenen, deren Aufmerksamkeitsspanne nach der Headline endet.
Thomas Stollenwerk
Politologe, Wissenschaftskommunikator und Autor
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.
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