Viele Menschen in Österreich schauen gespannt nach Portugal und fragen sich, wie es möglich ist, hier progressive Politik umzusetzen, während in vielen anderen europäischen Ländern RechtspopulistInnen Zugewinne feiern. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?
Augusto Praça: Es ist schwierig, die Situation in Portugal zu verstehen, ohne die Geschichte des Landes zu kennen. Die Revolution vom 25. April 1974 ist in unserem Gedächtnis tief verwurzelt. Mit dieser Revolution hat sich hier sehr viel verändert. Eine der wichtigsten Errungenschaften ist unsere Verfassung – eine sehr progressive Verfassung: Darin ist das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen genauso verankert wie das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, auf Streik, auf Mindestlöhne und auf vieles mehr.
In unserer progressiven Verfassung ist das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen genauso verankert wie das Recht auf gewerkschaftliche Organisation, auf Streik, auf Mindestlöhne und auf vieles mehr.
Aufgrund unserer Verfassung und mit dem Widerstand der ArbeiterInnen haben wir seit der Revolution viele Angriffe der Rechtsparteien auf ArbeiterInnenrechte abwehren können. Die furchtbarste Zeit haben wir in den Jahren 2009 bis 2014 erlebt, als all die Maßnahmen gegen ArbeiterInnen in Europa eingeführt worden sind. Wir haben damals vier Generalstreiks organisiert und fast jede Woche Demonstrationen und Kundgebungen. So haben wir es geschafft, die geplanten Maßnahmen zu verhindern.
Während der Troika-Zeit haben die Rechtsparteien ihre Mehrheit im Parlament genutzt und die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst von 35 auf 40 Stunden erhöht, die Löhne gesenkt, die Mindestlöhne eingefroren, die Pensionen gekürzt und die meisten öffentlichen Dienstleistungen privatisiert. Viele dieser Verschlechterungen konnten wir nach den Wahlen 2015 wieder rückgängig machen, der Verfassungsgerichtshof hat viele Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt.
Aus diesen Wahlen ist eine sozialistische Minderheitsregierung hervorgegangen, die von mehreren Linksparteien unterstützt wird. Wie erklärt sich der Erfolg?
Ja, wir haben es durch unseren Kampf auch geschafft, das Wahlverhalten der Menschen und damit das Machtgefüge im Parlament zu verändern. Um eine Mehrheit im Parlament zu bekommen, musste sich die Sozialistische Partei nach den Wahlen 2015 mit den KommunistInnen, den Grünen und dem Linksblock auf eine Zusammenarbeit einigen. Und auf Mindestbedingungen, um die Unterstützung der Linksparteien zu erhalten. Es handelt sich nicht um eine Koalition, sondern um eine parlamentarische Unterstützung der Regierung durch die Linksparteien in den wichtigsten Fragen.
Bei jedem Versuch der Rechtsparteien, die Regierung zu stürzen, hielten die Linksparteien und die sozialistische Minderheitsregierung zusammen, um zu verhindern, dass die Rechte wieder an die Macht kommt.
Durch dieses Abkommen konnte man die Macht der Rechten im Parlament brechen, und auf der Grundlage dieser Übereinkunft konnten wir bisher alle ihre Attacken abwehren. Bei jedem Versuch der Rechtsparteien, die Regierung zu stürzen, hielten die Linksparteien und die sozialistische Minderheitsregierung zusammen, um zu verhindern, dass die Rechte wieder an die Macht kommt.
Der gewerkschaftliche Kampf hat also die linke Mehrheit ermöglicht. Aber wie ist aktuell das Verhältnis der CGTP zur Regierung?
Unser Verhältnis zur Regierung ist gut. Manchmal stimmen wir überein, in anderen Punkten vertreten wir unterschiedliche Positionen. Wenn wir Streiks oder Demonstrationen organisieren, glauben viele Leute im Ausland, dass wir damit den Rücktritt der Regierung herbeiführen wollen. Aber das ist nicht unser Ziel. Wir wollen keinen Rücktritt der Regierung, weil wir die rechten Parteien nicht wieder in der Regierung haben wollen. Aber wenn die Regierung nicht weit genug geht, um die Arbeitsbedingungen der Menschen zu verbessern, müssen wir Druck erzeugen. Wir fordern von der Regierung, dass sie umsetzt, was die Menschen in Portugal brauchen: höhere Löhne, höhere Pensionen, bessere Arbeitsbedingungen. Es ist offenbar sehr viel Geld da, um es den Banken zu geben – es muss auch Geld da sein, um es den ArbeiterInnen zu geben. Wir stehen ganz klar auf der Seite der ArbeiterInnen und wollen, dass die Regierung das Gleiche tut.
Im Jahr 2015 kam die Wende: Nach der Parlamentswahl bildete die Sozialistische Partei eine von den Linksparteien gestützte Minderheitsregierung. Sie erhöhte Löhne und Pensionen auf der einen, Erbschafts- und Vermögenssteuern auf der anderen Seite.
Seither wächst die portugiesische Wirtschaft kontinuierlich, im Jahr 2017 verzeichnete das portugiesische Statistikamt das stärkste Wachstum in diesem Jahrhundert. Die Gewerkschaft CGTP kämpft aktuell für die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns von 600 auf 850 Euro.
Kommen wir zurück zu den Rechtsparteien: Warum ist die extreme Rechte in Portugal so marginalisiert?
Für rechtsextreme Parteien ist in Portugal kein Platz. Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass wir immer auf die Forderungen und Bedürfnisse der armen Leute und der ArbeiterInnen geantwortet haben. Unsere Gewerkschaften und unsere Linksparteien haben nie irgendwen zurückgelassen. Wir haben auch die Straße nie verlassen. Damit haben wir den Rechten nie Platz gelassen, um sich mit ihren Angeboten durchzusetzen. Denn wenn es einen freien Platz gibt, wird dieser Platz von jemandem besetzt. Deshalb musst du den Platz immer wieder einnehmen, jeden Tag, jeden Moment.
Für rechtsextreme Parteien ist in Portugal kein Platz.
Das waren die Voraussetzungen, um 2015 das Machtgefüge im Parlament zu ändern. Danach haben wir es geschafft, viele Verschlechterungen aus der Troika-Zeit rückgängig zu machen: Wir konnten den Mindestlohn wieder erhöhen, die 35-Stunden-Woche im öffentlichen Sektor wiedereinführen und wieder Kollektivverträge abschließen. Das hat wiederum sehr zum wirtschaftlichen Aufschwung in Portugal beigetragen und vielen Menschen, die vor 2015 keine Zukunftshoffnungen mehr hatten, das Lachen zurückgegeben.
Hat man in anderen Ländern den Rechten also einfach zu viel Platz gelassen?
Die meisten sogenannten populistischen Parteien versuchen, die Bedürfnisse der Menschen aufzugreifen. Es geht um Menschen, die ihre Arbeit verlieren, um Menschen, die trotz Arbeit jeden Tag ärmer werden, um Menschen, die nicht genug Geld haben, um ihre Rechnungen zu bezahlen. Haben linke Parteien und Gewerkschaften in Europa Antworten für diese Menschen? Nein, haben sie nicht.
Haben linke Parteien und Gewerkschaften in Europa Antworten für Menschen, die ihre Arbeit verlieren, für Menschen, die trotz Arbeit jeden Tag ärmer werden, für Menschen, die nicht genug Geld haben, um ihre Rechnungen zu bezahlen? Nein, haben sie nicht.
Und wenn du nicht bist, wo die Menschen sind, wo die ArbeiterInnen sind, und dort bleibst, werden die Rechtsparteien diesen Platz besetzen. Viele sozialdemokratische Parteien in Europa unterscheiden sich nicht mehr von Mitte-rechts-Parteien. Und viele Gewerkschaften glauben, es gäbe keinen Unterschied zwischen Parteiinteressen und ArbeiterInneninteressen, streben mehr nach Machterhalt, als selbst eine Gegenmacht zu sein. Aber wenn sie sagen, sie können diese oder jene Forderung nicht aufstellen, weil sie zu unrealistisch sei, dann haben sie aufgehört, das zu tun, wofür sie gegründet worden sind. Wenn die linken Parteien und die Gewerkschaften nicht auf die Forderungen und Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen antworten, werden die Rechtsparteien in den nächsten Jahren noch mehr Platz einnehmen.
Im Herbst stehen hier in Portugal wieder Parlamentswahlen an. Rechnen Sie mit einer Fortsetzung dieser Regierungskonstellation?
Es kann sein, dass es wieder dazu kommt. Aber ich weiß nicht, ob die Regierung dann den gleichen Weg verfolgen wird. Heute muss jede Maßnahme zwischen der Sozialistischen Partei und den Linksparteien abgestimmt werden. Wenn sich das Kräfteverhältnis im Parlament zugunsten der Sozialistischen Partei verändert, und vor allem, wenn sie allein regieren kann, wird die Regierungspolitik eine andere sein. Was gerade in Portugal passiert, kann nämlich nur passieren, weil jede Maßnahme zwischen den Parteien diskutiert werden muss. Fest steht jedenfalls: Die Rechte wird die Wahlen im Herbst nicht gewinnen. Da müsste es schon vorher noch zu einem politischen Desaster kommen.
Dietmar Meister
ÖGB-Kommunikation
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.
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