Sonja Fercher
Chefredakteurin
Arbeit&Wirtschaft
Unsolidarisches System
Man darf sich keine Illusionen machen: Dass der Wohlstand insgesamt gewachsen ist, ist ein Ergebnis dieses wahrlich unsolidarischen Wirtschaftssystems. Ob es das alltägliche Smartphone ist, für das Rohstoffe unter elenden Bedingungen inklusive Kinderarbeit abgebaut werden. Ob es Obst oder Gemüse ist, das ArbeiterInnen – im Übrigen mitunter auch in Österreich – unter unwürdigen Bedingungen ernten. Ob es Kleidung ist, die Menschen in Asien in Sweatshops ebenfalls unter schrecklichen Bedingungen herstellen. Dass Menschen vor solchen Bedingungen flüchten, kann man ihnen kaum verdenken. Allerdings sei hier auch betont: Es ist keineswegs so, dass alle nach Europa kommen. Ganze 84 Prozent der Flüchtlinge leben nämlich in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Deshalb ist auch das eine Frage der internationalen Solidarität, dass der reiche Kontinent Europa seinen – vergleichsweise kleinen – Teil der internationalen Migration schultert.
Es ist eine Frage der internationalen Solidarität, dass der reiche Kontinent Europa seinen – vergleichsweise kleinen – Teil der internationalen Migration schultert.
Ja, können wir uns das denn leisten, wir dann als Nächstes gefragt. Diese Frage darf man nicht nur mit dem Hinweis beantworten, dass es sich auch ärmere Regionen leisten müssen. Denn in der Tat haben wir auch in Europa ein Gerechtigkeits- bzw. besser gesagt: ein Verteilungsproblem. Denn wer bezahlt denn all die staatlichen Maßnahmen, die es zur Bewältigung von Migration wie Integration braucht? Nun, es sind in erster Linie die arbeitenden Menschen, denn von ihnen werden die staatlichen Budgets zu einem Großteil finanziert.
- Mehr als 80 Prozent kommen aus Arbeit und Konsum.
- Der Rest stammt aus Kapitaleinkünften, Gewinnen und Vermögen.
So ist der Steuerkuchen in Österreich sehr ungleich verteilt: Mehr als 80 Prozent kommen aus Arbeit und Konsum. Der Rest stammt aus Kapitaleinkünften, Gewinnen und Vermögen – und gerade hier herrscht auch in Österreich eine enorme Ungleichheit. Gleiches gilt, was die Aufnahme der MigrantInnen betrifft. Denn wer muss das denn bewältigen? Aufgrund des ungleichen Bildungssystems sind es dann oft SchülerInnen in Schulen, denen ohnehin an allen Ecken und Enden die Mittel fehlen, um die Kinder gut auf die Zukunft vorzubereiten. Am Arbeitsmarkt sind es jene ArbeitnehmerInnen, die ohnehin schon unter Konkurrenzdruck stehen und wenig verdienen. Das rechtfertigt keinesfalls fremdenfeindliche Antworten, denn erstens lenken diese nur vom eigentlichen Thema ab. Zweitens sind MigrantInnen die Letzten, die dafür verantwortlich sind, dass das System so ist, wie es ist. Vielmehr sind sie es, die Konsequenzen dieses unfairen Systems als Erste zu spüren bekommen haben.
Die gute alte Systemfrage
Internationale Solidarität bedeutet also weitaus mehr, als Hilfsprogramme aufzulegen oder verantwortlich einzukaufen. Es muss bedeuten, das System selbst infrage zu stellen. Aber kann ich das denn als Einzelperson? Nun ja, zweifellos ist die Macht, die Individuen haben, sehr beschränkt. Aber machtlos ist das Individuum keineswegs. Es kann sowohl verantwortlich einkaufen als auch in Betrieben für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Gewerkschaften spielen hier eine sehr wichtige Rolle, denn sie sind es, die die Verteilungsfrage sowohl im In- als auch im Ausland stellen können und müssen. Denn was ist ein gutes Leben für alle in Europa wert, wenn es auf einem schlechten Leben von anderen beruht, die das Pech hatten, woanders geboren worden zu sein – ganz abgesehen davon, dass sich viele von ihnen mit dem Wunsch nach einem besseren Leben auf den Weg nach Europa machen.
Sonja Fercher
Chefredakteurin Arbeit&Wirtschaft
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.
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