Über Gründung, Zensur und Wiedergründung
Nach ihrer Gründung erschien die „Arbeit&Wirtschaft“ anfangs als Monatszeitschrift und später in einem zweiwöchigen Rhythmus. In den Jahren 1933 und 1934, als Gewerkschaftsblätter bereits unter die Zensur fielen und ihre Verbreitung verboten wurde, kämpfte die „Arbeit&Wirtschaft“ noch dagegen an. Aber auch sie musste 1934 eingestellt werden. Im Jahr 1947 nach dem Austrofaschismus und der nationalsozialistischen Diktatur wurde sie wiedergegründet.
Im Auftrag der Arbeitnehmer:innen
Im Geleit zur ersten Ausgabe der „Arbeit&Wirtschaft“ hielten Herausgeber und Redakteure ihre Zielsetzungen fest:
• Machtposition der Arbeit in der Wirtschaft und Gesellschaft darstellen.
• Die Arbeit hat nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht und bei ihrer imposanten organisatorischen und geistigen Stärke die Möglichkeit, vor die Öffentlichkeit hinzutreten, um ihre Anschauung und Absichten, ihre Vorstellungen und Wünsche darzustellen.
• Es handelt sich um die Schaffung eines entsprechenden Organs, um der Öffentlichkeit, die praktisch und theoretisch an den großen Problemen der Gegenwart arbeitet, die Gedankenwelt der Arbeiterschaft zu eröffnen – in ihrem ganzen Reichtum und Buntheit.
• Arbeit&Wirtschaft will den Standpunkt der Arbeit zur Neureglung der Wirtschaft bekannt geben und verfechten, durch Darlegung, Besprechung und Lösungsversuche der zahllosen Probleme der Gegenwart und der nahen Zukunft.
• Die Redaktion wird bemüht sein, der Würde und Bedeutung der Arbeit entsprechend, den richtigen Ausdruck für die Ansicht der Arbeiter und Angestellten zu finden. Sie wird daher Männer der Praxis und der Wissenschaft zu Worte gelangen lassen: in Abhandlungen und in sorgfältig ausgearbeiteten Übersichten wird den Lesern unserer Zeitschrift ein Bild des großen Strebens und Suchens geboten werden.
1921-1923: Über die politische und wirtschaftliche Lage
Am 26. Februar 1920 beschließt die konstituierende Nationalversammlung der jungen Republik Österreich das Gesetz über die Errichtung von Kammern für Arbeiter und Angestellte.
Im Jahr 1921 erfolgte per Gesetz österreichweit die Gleichstellung der Arbeiterkammern mit den Handelskammern. Diese rechtliche Gleichstellung war für die Gewerkschaften Ausdruck der Anerkennung der Arbeiterschaft als vollwertige Bürger:innen. Die Zielsetzung war
den Gewerkschaften ein Apparat zu sein, die Wirtschaft zu durchleuchten, sozialpolitisch das Gestrüpp gesetzlicher Einrichtungen zu durchdringen und arbeitsrechtlich alles verteidigen zu helfen.
erklärt Historikerin Brigitte Pellar in einem Beitrag.
Im selben Jahr fanden die ersten Arbeiterkammerwahlen statt und der AK Wien wurde durch den Österreichischen Arbeiterkammertag die Interessensvertretung gegenüber dem Bund übertragen. Erster AK-Präsident wurde Franz Domes, dem Ferdinand Hanusch als erster Direktor zur Seite stand (Quelle: Portal der Arbeiterkammer – 1918-1933: Gründung & erste Erfolge).
Wirtschaftlich stand die junge Republik Ende 1921 kurz vor dem Staatsbankrott. Die Regierung nahm ausländische Hilfe in Anspruch und akzeptierte die Bedingungen der Kapitalgeber, die sogenannte „Völkerbundanleihe“. Es folgte ein Sparpaket seitens der regierenden konservativen Regierung, das ähnlich jenem der Trojka für Griechenland in den 2000ern, möglichst wenige Staatsausgaben und das Zurückfahren des Sozialstaats vorsahen. Zwar wurde das Budget konsolidiert, der Schilling kurzfristig stabilisiert, jedoch die gerade anspringende Konjunktur erstickt. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Im Folgejahr 1922 erfolgte ein Wirtschaftseinbruch und die Inflationsrate schnellte auf neue Höhen.
Die erste Ausgabe
Nehmen wir uns die Zeit und werfen wir einen Blick in die erste Ausgabe. Es war, wie man heute sagt, das Who-is-Who der Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung und die Vertreter der Arbeiterkammern, die einen Beitrag in der ersten Nummer beisteuerten.
- Zum Geleit
- Der wirtschaftliche Klassenkampf, Karl Renner
- Volkswirtschaft und Sozialpolitik, Ferdinand Hanusch
- Der internationale Friedenskongress und die Gewerkschaften, Julius Deutsch
- Krieg dem Kriege, Anton Hueber
- Die Gewerkschaftsbewegung und der Faschismus, Viktor Stein
- Streifzüge durch die Weltwirtschaft, Otto Leichter
- Rundschau
1923-1934: Von „roaring twenties“ nichts zu spüren
Nach dem großen Sterben des Ersten Weltkriegs kam der Boom. Die Nachkriegsinflation, die erst ab 1922 in eine Hyperinflation überging, beeinflusste die Binnenkonjunktur positiv und war ein erheblicher Wettbewerbsvorteil für den Außenhandel. Allerdings verringerte die positive Wirtschaftsentwicklung auch notwendige Anpassungsschritte. Die Internationale Wirtschaftsentwicklung schlug in den ersten Nachkriegsjahren kaum auf Österreich durch.Als die Geldentwertung zusehends außer Kontrolle geriet, entschied sich die konservative Bundesregierung unter Bundeskanzler Johann Schober und in ihrem Gefolge jene unter Ignaz Seipel für eine Sanierung durch Auslandskredite. Weil die Geldgeber ausgabenseitige Sanierungsauflagen zur Bedingung machten, konnte die Bundesregierung jene Austeritätspolitik, die sie ohnehin hatte betreiben wollen, als von außen aufoktroyiert darstellen – mitsamt ihren negativen sozialen Konsequenzen, die wesentlich zur gesellschaftlichen Polarisierung der folgenden Jahre beitrug.
Im Augenblick spricht man von einer
Krise der Demokratie – zahlreiche
Erscheinungen scheinen dieses
Wort zu rechtfertigen.
Karl Renner, Arbeit&Wirtschaft, 21/1926
Im Zuge der „Stabilisierungskrise“, also der strikten Deflationspolitik, die Wachstumsimpulsen weitgehend den Boden entzog, wurden auch die Probleme überdeutlich, die der Strukturanpassung beim Übergang von der europäischen Regionalmacht zum Kleinstaat geschuldet waren. In Erinnerung geblieben sind vor allem Turbulenzen in einem überdimensionierten Finanzsektor, besonders der Crash der Bodencredit 1929 und in weiterer Folge 1931 der Zusammenbruch der Creditanstalt als größter Bank des Landes.
Harte Zeiten, wenig Arbeit
Das vergangene Jahr brachte
den Höhepunkt der Kohlekrise.
Hermann Heindl, Arbeit&Wirtschaft, 7/1931
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten blieben jedoch nicht auf die Geldhäuser beschränkt. Die Wachstumsraten lagen während der ganzen 1920er Jahre unter dem europäischen Schnitt, Österreich war ein Niedriglohnland, die Abschottung der Binnenmärkte in den Sukzessionsstaaten der Monarchie tat ein Übriges, um ein Verharren auf niedrigem Niveau sicher zu stellen. Mit der Weltwirtschaftskrise folgten ab 1929 tiefe Einbrüche, so sank bis 1933 die Produktion in der Metallindustrie um über 60 Prozent, in der verhältnismäßig günstig davongekommenen chemischen Industrie immer noch um 20 Prozent.
So kann niemand, der eine Spur von Verstand und Gewissen hat,
ernstlich behaupten, dass eine Herabsetzung
des gesetzlichen 50-prozentigen Überstundenzuschlags
eine Entlastung der Wirtschaft
herbeizuführen geeignet wäre.
Otto Leichter, Arbeit&Wirtschaft, 10/1926
Die Arbeitslosigkeit explodierte folgedessen förmlich, was eine Abwärtsspirale in Gang setzte, so sank die Konsumgüterproduktion bis 1938 kontinuierlich, zugleich brachte die soziale Misere die kommunalen Finanzen (die für die Bedeckung der Fürsorgeleistungen verantwortlich waren) an ihre Grenzen. Das wirkte wiederum negativ auf deren Bautätigkeit zurück: Bis 1933 erfuhr das Baugewerbe ein Minus von mehr als 50 Prozent.
Der Staatsstreich 1933
Lange Schlangen drängten sich vor den Suppenküchen, als sich am 12. Mai 1932 das Parlament auflöste. Die Weltwirtschaftskrise in den 1930ern hatte jede vierte Person arbeitslos gemacht, vor allem Jugendliche waren betroffen. Durch das Einsparen der Staatsausgaben wollten die an der Macht stehenden Christlichsozialen die Krise überwinden. Der „revolutionäre Schutt“ sollte weggeräumt werden: Löhne und Sozialleistungen sollten gekürzt, die Kollektivverträge und selbst verwalteten Krankenkassen abgeschafft werden. Unterstützt wurden sie von den Heimwehren, einer bewaffneten Einheit. Diese kritisierten bereits 1931 scharf:
Wir verwerfen den westlichen
demokratischen Parlamentarismus
und den Parteienstaat!
Die Strategie von Kanzler Dollfuß war es, keine Neuwahlen stattfinden zu lassen. Eine Panne in der Nationalratssitzung am 4. März 1933 bot Dollfuß schließlich den willkommenen Anlass, Nägel mit Köpfen zu machen. Er überführte die Republik in eine Diktatur, wenngleich er von einer „Selbstausschaltung des Parlaments“ sprach. Denn nach einem Streit im Parlament, traten alle drei Präsidenten des Nationalrats zurück. Das Parlament war nicht mehr beschlussfähig. Quelle: Was bisher geschah | Die Ausschaltung des Parlaments 1933
Von Brotnehmern und Brotgebern
Redakteur Stephan Huppert berichtete am 1.2.1925, die Regierung Seipel hätte mit der Einsetzung einer Antiteuerungskommission nun die Inflationsbekämpfung in Angriff genommen. Und damit auch die Revision des Brotpreises. Denn die Nachwehen des Ersten Weltkriegs beschäftigten die österreichische Bevölkerung. Die neue Republik war flächen- und einwohnermäßig stark geschrumpft, sodass Agrar- und Industriegebiete nicht mehr im Staatsgebiet lagen und der Brotpreis stieg.
Doch Unternehmen machten sich eine andere Erklärung zugute. So wurde der Brotpreis auf die angeblich hohen Löhne der Bäckereiarbeiter:innen und das Nachtbackverbot zurückgeführt.
Redakteur:innen dieser Zeit
Käthe Leichter (1895–1942) war Widerstandskämpferin, Sozialistin, Sozialwissenschaftlerin und erste Leiterin des Frauenreferats der AK. Sie legte mit ihrer Studie zu Industriearbeiterinnen den Grundstein für die Forschung zu weiblicher Arbeit. Als Jüdin und aufgrund ihres politischen Widerstandes wurde sie von den Nazis ermordet. Quelle: dasrotewien.at
Otto Neuraths (1882–1945) Erfindung der Wiener Methode der Bildstatistik ziert bis heute Bahnhöfe und Flughäfen. Sie wurde von ihm auch in der Arbeit&Wirtschaft und Arbeiter-Zeitung verwendet. Der jüdische Sozialökonom, Volks- und Arbeitsbildner und austromarxistische Intellektuelle flüchtete 1940 nach England, wo er bis zu seinem Tod lebte. Quelle: dasrotewien.at
1945 – 1953: Zuversicht trotz aller Not und Bitternis
Der Zweite Weltkrieg hatte in weiten Teilen des Landes und in der Wirtschaft seine Spuren hinterlassen. Es fehlte an Kohle und Strom, Nahrungsmitteln, Bekleidung und Medikamenten. Auch gab es nach dem Ende des Nationalsozialismus eine Fülle von sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen. Noch 1947/48 mussten die Menschen – so ÖGB-Präsident Johann Böhm
wie schon sooft vorher,
in ungeheizten Stuben
vor ungedeckten Tischen
Johann Böhm, ÖGB-Präsident
feiern, an denen „Mutter Sorge Platz genommen hat“. Im September 1946 wurden Arbeitsschuhe an die Arbeiter:innen und Angestellten durch den ÖGB verteilt. Mit Hilfe der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Adminsitration), deren Aufgabe es war durch Lebensmittel und Saatgut zu liefern, konnte die unmittelbare Not der Nachkriegszeit gemildert werden. Von entscheidender Bedeutung für den Wiederaufbau der österreichischen Wirtschaft war auch die Marshallplanhilfe (European Recovery Programm).
Es geht ums Ganze!
Karl Mantler, Präsident der Wiener Arbeiterkammer
und Obmann der Arbeiter in der Lebens- und Genußmittelindustrie
Durch diese Hilfsprogramme, die Preis- und Lohnabkommen und die Schaffung einer stabilen Währungsordnung konnte die österreichische Wirtschaft rasch wieder in Gang gebracht werden. Mit dem Kollektivvertragsgesetz vom Februar 1947 konnten auch wieder frei vereinbarte Kollektivverträge abgeschlossen werden. Zunehmend stabilisierte sich auch die politische Lage, der Abschluss des österreichischen Staatsvertrags ließ allerdings noch auf sich warten
Das Ende des Zweiten Weltkriegs und Gründung von ÖGB und Wiedergründung von AK
eine Fülle von Aufgaben zu erfüllen!
Johann Böhm, Bauarbeiter, ÖGB-Präsident, Staatssekretär für soziale Verwaltung, in: „Arbeit und Wirtschaft, Nr. 6/1948, S. 1
Der Zweite Weltkrieg war in Europa im Mai 1945 zu Ende. Weite Teile Europas und der Welt lagen in Schutt und Asche. In den ersten Apriltagen des Jahres 1945, während sich in Wien noch die letzten Kampfhandlungen abspielten, fanden die ersten Gespräche zur Gründung eines überparteilichen Gewerkschaftsbundes statt. Auf der Vertrauensleutekonferenz am 15. April 1945 in Räumlichkeiten des Westbahnhofs wurde die Gründung beschlossen. Ebenfalls noch im Jahr 1945 wurde die Wiedererrichtung der Arbeiterkammern entschieden.
Die ÖGB- und AK-Präsidenten wussten, dass die Wiedererrichtung wichtiger denn je war:
In der Sozialpolitik ist ein Umbau und Neuaufbau
im Gange, der sich auf alle Zweige dieses komplizierten
Gebietes der Gesetzgebung und Verwaltung erstrecken muß.
Vieles ist bisher geleistet worden, wie zum Beispiel die
Wiederherstellung der Gewerkschaftsfreiheit,
die Arbeiterkammern, das Feiertagsgesetz, das Betriebsrätegesetz,
das Kollektivvertragsgesetz, das Arbeiterurlaubsgesetz,
die Wiederherstellung der Selbstverwaltung
der Sozialversicherung und verschiedenes andere.
Aber manches steht noch aus und sollte bald nachgeholt werden.
Karl Mantler, Präsident der Wiener Arbeiterkammer und Obmann der Arbeiter in der Lebens- und Genußmittelindustrie, in: Arbeit und Wirtschaft, Nr. 4/1947, S 1
Der Schuharbeiter:innenstreik 1948
Am 3. März 1948 wurde in sämtlichen Schuhbetrieben Österreichs die Arbeit niedergelegt. Der Streik dauerte bis zum 3. Mai 1948. Ziel war es, die Aufnahme von neuen Kollektivvertragsverhandlungen zu erreichen. Ergebnis war ein neuer Kollektivvertrag und Arbeitszeitregelungen. Am 3. Mai, also nach mehr als 60 Tagen, wurde die Schuhproduktion wieder aufgenommen.
Redakteur:innen dieser Zeit
Wilhelmine Moik (1894-1970) trat mit 18 Jahren der Gewerkschaft bei und war ab 1921 für die gewerkschaftliche Organisation von Frauen tätig. Es folgten mehrere Verhaftungen Moiks während des Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Von 1945 bis 1963 war sie Mitglied des Nationalrats, ab 1951 ÖGB-Frauenvorsitzende – und sie schrieb unter anderem für die Arbeit&Wirtschaft.
Otto Leichter (1897-1973) studierte nach dem Ersten Weltkrieg an der Universität Wien und war im Verband der sozialistischen Studenten tätig. 1924 wurde er Redakteur der „Arbeiter-Zeitung“, wo er bis zum Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) 1934 die Wirtschaftsredaktion leitete. 1934 floh er mit Frau und Kinder in die Schweiz, kehrte dann nach Österreich zurück und war für die illegalen Revolutionären Sozialisten und den Bund der Freien Gewerkschaften tätig. 1938 floh er erneut mit seinen Kindern nach Frankreich, später in die USA. Im Exil war Otto Leichter im Propagandakampf gegen die Nazis engagiert und publizierte über die österreichische Arbeiter:innenbewegung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Österreich zurück und war etwa ein Jahr Redakteur der wiedererstandenen Zeitschrift „Arbeit und Wirtschaft“.
1954- 1963: Das „Wirtschaftswunder Österreich“
Der Wiederaufbau Österreichs verlief nach Ende des Zweiten Weltkriegs anders als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erstaunlich rasch. Wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau leistete die österreichische Sozialpartnerschaft. Am 1. Februar 1959 trat der Generalkollektivvertrag über die 45-Stunden-Woche in Kraft, der eine Vereinheitlichung der Arbeitszeitregelungen brachte. Die im Nachkriegsösterreich geschlossenen Preis- und Lohnabkommen wurden 1952 beendet. An ihre Stelle trat die 1957 gegründete Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen, blieb doch die Lohnsteigerung der österreichischen Arbeitnehmer:innen von 1953 bis 1962 hinter dem Wirtschaftswachstum zurück. Dieses Wachstum wurde 1962 durch die erste Konjunkturabschwächung unterbrochen, lebte später aber wieder auf. Sozialpolitisches Highlight war das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), das nach jahrelangen Drängen von ÖGB und AK erreicht werden konnte. Österreich entwickelte sich zu einem Industriestandort mit neuen Herausforderungen.
Metallarbeiter:innenstreik
200.000 Beschäftigte der Metallindustrie und des Metallgewerbes forderten 1962 Ist-Lohnerhöhungen und arbeitsrechtliche Verbesserungen. Am 10. Mai kam es zur Einigung und Abschluss eines neuen Vertrags für das Metallgewerbe, am 12. Mai für die Metallindustrie. Neben Ist-Lohnerhöhungen, konnten arbeitsrechtliche Verbesserungen erreicht und die sogenannten Frauenlohngruppen abgeschafft werden.
Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) 1955/1956
Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelang den Arbeitnehmer:innenvertretungen endlich die Kodifikation des ASVG, also die Zusammenfassung in einem leicht überblickbaren Arbeitsgesetzbuch, was verschiedene Verbesserungen brachte. In den folgenden Jahren wurden eine Vielzahl von ASVG-Novellen beschlossen, doch das ASVG blieb die Grundlage für den österreichischen Sozialstaat.
Redakteur:innen dieser Zeit
Maria Szécsi (1914-1984) musste als junge Frau vor den Nazis in die USA flüchten. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich wurde sie Expertin der wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung in der AK Wien und war als Redakteurin für die Arbeit&Wirtschaft tätig. Sie war als erste Frau von der Arbeiterkammer nominiertes Mitglied des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen, damals der 3. Unterausschuss der Paritätischen Kommission. Der Beirat erstellt Studien und Empfehlungen zu allgemeinen wirtschaftspolitischen Fragen.
Friedrich Hillegeist (1895-1973) war einer der Gestalter des ASVG und schrieb für die Arbeit&Wirtschaft. Der ÖGB-Vizepräsident und Präsident des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger leitete 1938 zunächst eine Delegation der illegalen Freien Gewerkschaftern, die mit der Schuschnigg-Regierung über den gemeinsamen Kampf gegen die Nazis verhandelten. Von 1945 bis 1963 war er Vorsitzender Gewerkschaft der Angestellten in der Privatwirtschaft (später Gewerkschaft der Privatangestellten/GPA).
1964-1973: Eine neue Zeit beginnt
Hoffnung und Mut für ein gerechtes Leben: Viele Menschen, allen voran Jugendliche und Studierende, nahmen weltweit an Protesten, Streiks und Demonstrationen teil, um für Anti-Apartheid, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einzutreten. Einer der Höhepunkte war das Jahr 1968. Auch in Österreich sollte es zu politischen und wirtschaftlichen Veränderungen kommen. Die politische Landschaft war seit dem Ende des Krieges von Koalitionen der ÖVP und SPÖ geprägt, 1966 kam es zur ÖVP-Alleinregierung, nach den Wahlen 1970 zur SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky. Österreich war auf dem Weg zum modernen Industriestandort. Unter der vielzitierten „Blütezeit der Sozialpartnerschaft“, geprägt von ÖGB-Präsident Anton Benya und dem Präsidenten der WKÖ Rudolf Sallinger kam es in diesem Jahrzehnt zu einer Reihe von sozialpolitischen Errungenschaften, wie der Verlängerung des Mindesturlaubes auf drei Wochen (1964), dem Bundes-Personalvertretungsgesetz (1967), dem Arbeitsmarktförderungsgesetz (1968), dem Berufsausbildungsgesetz (1969), dem Jugendvertrauensrätegesetz (1972), dem langersehnten Arbeitsverfassungsgesetz (1973).
26. September 1969: Step by step – die Arbeitszeitverkürzung geht voran!
Der ÖGB und die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft unterzeichnen nach einem Volksbegehren zur Einführung der 40-Stunden-Woche den Generalkollektivvertrag betreffend der Einführung der 40-Stunden-Woche in Österreich. Das Verhandlungskomitee der Sozialpartner einigt sich auf die etappenweise Einführung: ab 1. Jänner 1970 43 und ab 1. Jänner 1975 40 Stunden pro Woche.
9. Juli 1972: Das Jugendvertrauensrätegesetz wird beschlossen
Bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs forderte die Österreichische Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) Jugendvertrauensräte. Nach langen Verhandlungen wurde im Frühjahr nach Beratungen im Jugendvorstand und in der Jugendabteilung ein Entwurf zu einem Jugendvertrauensrätegesetz erarbeitet und dem Bundesministerium für soziale Verwaltung übermittelt. Um eine raschere Realisierung des Jugendvertrauensrätegesetzes durchzusetzen wurde eine Unterschriftenaktion und eine großangelegte Kampagne gestartet. Nach intensiven Verhandlungen im Parlament wurde das Jugendvertrauensrätegesetz am 9. Juli 1972 beschlossen und ist am 1. Jänner 1973 in Kraft getreten. 2023 feierte das Gesetz seinen 50. Geburtstag, nachdem es kurz zuvor (2017) politische Kontroversen über den Fortbestand gab.
14. Dezember 1973: Das Grundgesetz der Arbeit wird beschlossen
Die Kodifikation des Arbeitsrechts, also die Zusammenführung, Vereinheitlichung und Reform der kollektiv- und individualarbeitsrechtlichen Normen in ein Gesetz war seit der Gründung des ÖGB im Jahr 1945 eine der zentralsten Forderungen. Es konnte erst nach langen schwierigen Verhandlungen tatsächlich am 13. Dezember 1973 beschlossen werden. In Kraft getreten ist das „Grundgesetz“ der Arbeit am 1. Juli 1974.
Redakteur:innen dieser Zeit
Grete Rehor (1910-1987), von Beruf Textilarbeiterin, war seit ihrer Jugend in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiv. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war sie, die ihren Mann in den Wirren des Krieges verloren hat, Alleinerzieherin. Sie wurde Sekretärin der Gewerkschaft der Textil-, Bekleidungs- und Lederarbeiter. 1966 wurde sie während der ÖVP-Alleinregierung Bundesministerin für soziale Verwaltung und ging damit als erste Frau Minister in die österreichische Geschichte ein. Zu ihren größten Erfolgen zählte das Arbeitsmarktförderungsgesetz (1968) und das Berufsausbildungsgesetz (1969).
Gerhard Weißenberg (1920 – 1980) war Jurist und Sozialpolitiker. Von 1950 bis 1976 leitete er das sozialpolitische Referat im ÖGB, von 1968 bis 1976 war er stellvertretender Direktor der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien und Präsident des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger. Von 1976 bis 1980 war Weißenberg Bundesminister für soziale Verwaltung und wurde in dieser Zeit auch zum Präsidenten der lnternationalen Arbeitsorganisation (lAO/ILO) gewählt. Gerhard Weißenberg war Autor zahlreicher Beiträge über Arbeitsrecht und Sozialpolitik und trug auch wesentlich zum Zustandekommen der Arbeitsrechtskodifikation bei.