100 Jahre Achtstundentag

Quelle: Der Standard, APA, Profil 28/04Copyright: A&W 9/2018, Thomas Jarmer

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Außer durch Faschismus und Krieg stand bis 2018 der Achtstundentag mit zehn Stunden Höchstarbeitszeit nie infrage. aber nur wenige Studenten und Akademiker.
Es ist bald genau 100 Jahre her, dass sich Gewerkschaften über einen bahnbrechenden Erfolg freuen konnten. Am 19. Dezember 1918 beschloss die provisorische Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich das Gesetz „über die Einführung des achtstündigen Arbeitstages in fabrikmäßig betriebenen Gewerbeunternehmungen“. Ein enormer Fortschritt, wenn auch nur für die IndustriearbeiterInnen, für die seit 1885 der Elfstundentag die Regel war. Für die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen galt noch immer die 6-Tage-Woche mit höchstens durch Kollektivverträge begrenzter Tagesarbeitszeit. Der erste gesetzliche Normalarbeitstag von acht Stunden mit kürzeren Arbeitszeiten für Frauen und Jugendliche war ein eindeutiges sozialpolitisches Signal.

Kompromiss

Das Gesetz war ein Kompromiss, ausgehandelt im „Industriekomitee“, dem Gremium, in dem Vertreter des „Hauptverbands der Industrie“, der „Reichskommission der Freien Gewerkschaften“ und der Staatsregierung das Krisenmanagement in der Übergangsphase von der Monarchie zur Republik koordinierten.

Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Übergangsparlament konnte vorerst nicht mehr erreicht werden – selbst die kürzere Arbeitswoche für Frauen und Jugendliche war nur nach sehr zähen Verhandlungen durchzusetzen. Die von der provisorischen Nationalversammlung beschlossenen Gesetze waren so provisorisch wie sie selbst. Es sollte der am 16. Februar 1919 gewählten konstituierenden Nationalversammlung, der ersten wirklich demokratisch von Männern und Frauen gewählten Volksvertretung Österreichs, vorbehalten bleiben, unbefristet geltendes Recht zu schaffen.

Die WählerInnen machten die sozialdemokratische Vereinigung mit ihrem starken Gewerkschaftsflügel zur stärksten Einzelfraktion, aber Christlichsoziale und Großdeutsche, bei denen die Interessen der Arbeitgeberseite dominierten, behielten zusammen die Mehrheit.

Bessere Chancen

Als die Republik nach dem Friedensvertrag von St. Germain ab September 1919 nur mehr „Österreich“ hieß und die Sieger des Ersten Weltkriegs einen Anschluss an die deutsche Republik verboten hatten, verließen die Großdeutschen die Koalition. Gleichzeitig erhielt der kleine ArbeitnehmerInnenflügel in der christlichsozialen Fraktion für kurze Zeit mehr Gewicht.

Außerdem wurde Österreich nach dem Friedensvertrag Mitglied der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation. Die ILO-Konferenz von Washington beschloss im November 1919 ein Übereinkommen „über die Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden täglich und achtundvierzig Stunden wöchentlich“. Unter diesen Bedingungen stiegen die Chancen, ein neues Gesetz zur Arbeitszeitverkürzung zu beschließen, wenn auch der Verabschiedung durch die Nationalversammlung heftige Auseinandersetzungen vorangingen. Die Kritik kam vor allem von der großdeutschen Opposition und hier besonders von den Industriellen, die mittlerweile jeden sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich ablehnten. Industriellenchef Viktor Wutte hielt statt einer Arbeitszeitverkürzung eine Arbeitszeitverlängerung für angemessen. Die ArbeiterInnen würden ohnehin zu viel feiern, meinte er. Die neuen Staatsfeiertage, der Republiktag am 12. November und der 1. Mai, seien höchst überflüssig.

Wuttes Fraktionskollege Leopold Stocker forderte sogar die Einführung von Zwangsarbeit in Krisenzeiten. Trotz dieser und anderer Widerstände beschloss die konstituierende Nationalversammlung am 17. Dezember 1919 das Gesetz, das den Achtstundentag und den freien Samstagnachmittag für Frauen und Jugendliche in (fast) allen Wirtschaftszweigen und Betriebsformen außerhalb der Landwirtschaft ab Juli 1920 einführte.

Riegel vorgeschoben

Als Kaufpreis für die weitreichende Arbeitszeitverkürzung mussten zahlreiche Ausnahmebestimmungen im Gesetz selbst und durch Sonderverordnungen zugestanden werden. Allerdings schob die Bestimmung, dass die Ausnahmeverordnungen in einer paritätischen Kommission von Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern verhandelt werden mussten, einem kompletten Unterlaufen des Achtstundentagsgesetzes einen Riegel vor. In der Praxis kaum wirksam wurde aber die 44-Stunden-Woche für Frauen und Jugendliche und es dauerte etliche Jahre, bis die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossenen Kollektivverträge durch bessere, dem neuen Standard entsprechende ersetzt werden konnten. Bis zum Ende der demokratischen Republik vereinbarten die meisten Verträge die 46-Stunden-Woche und damit auch für erwachsene Arbeitnehmer einen früheren Arbeitsschluss am Samstag.

Meilenstein

Trotz etlicher Mängel kann das Arbeitszeitgesetz vom Dezember 1919 als Meilenstein der Sozialgesetzgebung angesehen werden – und die ZeitgenossInnen empfanden das auch so. Denn ab 1890 hatte die ArbeiterInnenbewegung „acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden freie Zeit“ gefordert.

Nur selten war es den Gewerkschaften gelungen, in Kollektivverträgen eine kürzere Arbeitszeit oder gar den Achtstundentag durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund waren die Arbeitszeitgesetze der Republikgründungsjahre ein sozial- und demokratiepolitischer Durchbruch.

So beurteilte sie 1932 im Rückblick auch Richard Robert Wagner, der Organisator der Wiener Gewerkschaftsschule: „Das Achtstundentagsgesetz, Einschränkung der Arbeit von Frauen und Jugendlichen auf 44 Stunden in der Woche, Einschränkung und Verbot für Nachtarbeit, dann das Arbeiterurlaubsgesetz, Kulturgesetze ersten Ranges, schufen der Arbeiterschaft erst die nötige Freizeit und die Ausgeruhtheit, um die vielen Aufgaben demokratischer Selbstverwaltung in der Republik auf sich nehmen zu können …“ Als Wagner diese Zeilen schrieb, stand Österreich auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit war schon mehrere Jahre extrem hoch. Vor allem auch als Maßnahme im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit forderte der Kongress der Freien Gewerkschaften 1931 die 40-Stunden-Woche – ein Ziel, das erst nach Jahrzehnten erreicht werden konnte.

Der „Zeitgeist“ wies in die Gegenrichtung. Das austrofaschistische Regime, das 1933 die demokratische Republik zerstörte, schaffte zwar den Achtstundentag formal nicht ab. Aber er stand nur mehr auf dem Papier, unter anderem weil die Unternehmensleitungen jetzt unbegrenzt Überstunden anordnen konnten.

Täuschung

Die nationalsozialistische Arbeitszeitverordnung von 1938 bestätigte den Achtstundentag und die zehnstündige Höchstarbeitszeit und verbesserte sogar den Schutz für Jugendliche und Frauen.

Der Faschismus „gab sich in marktschreierischer Weise als (…) Sozialstaat, um darüber hinwegzutäuschen, dass er aufgehört hatte, Rechtsstaat zu sein“, wie Bundespräsident Karl Renner dreißig Jahre nach der Republikgründung anmerkte. Während des Zweiten Weltkriegs wurde aber der Elfstundentag wieder die Regel und so blieb es vorerst auch noch zu Beginn der Zweiten Republik ab 1945. Die Gewerkschaften im neuen Österreichischen Gewerkschaftsbund kämpften am Verhandlungstisch und wenn das nicht ausreichte auch mit Streiks darum, an die fortschrittlichen Arbeitszeitstandards von 1918 und 1919 anzuknüpfen.

Bis 1950 wurde der Achtstundentag durch Kollektivverträge flächendeckend wieder eingeführt und es galt in der Regel die 48-Stunden-Woche; einige Berufsgruppen erreichten aber schon mehr. 1948, im Jahr des ersten ÖGB-Kongresses, setzten die SchuhmacherInnen mit dem größten Streik der Nachkriegszeit etwa die 44-Stunden-Woche durch, während der 1959 zwischen ÖGB und Wirtschaftskammer abgeschlossene Generalkollektivvertrag flächendeckend nur die 45-Stunden-Woche vorsah.

Von 38 auf 60 Stunden

Ein neuer Generalkollektivvertrag und dann das lange geforderte Arbeitszeitgesetz legten 1969 den Stufenplan zur Einführung der 40-Stunden-Woche fest, die 1975 für die überwiegende Mehrheit der ArbeitnehmerInnen Wirklichkeit wurde.

Angesichts enormer Produktivitätssteigerungen setzte die Gewerkschaftsbewegung auch im folgenden Jahrzehnt auf Arbeitszeitverkürzung und 1985 wurde in einem ersten Kollektivvertrag die 38-Stunden-Woche vereinbart.

Von
Brigitte Pellar
Historikerin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 9/18.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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