Große Ökonomen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur das traditionelle Wissen bewahren, sondern neue Ideen einbringen, um die brennenden wirtschaftlichen Probleme ihrer Zeit zu lösen.
Zurück aus England
Kurt Rothschild und Josef Steindl sind solche großen Ökonomen. Sie kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg von englischen Universitäten nach Österreich zurück und fanden hier Aufnahme im Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Zwei Jahrzehnte später erhielt Rothschild eine Professur an der neu gegründeten Universität in Linz. Rothschild und Steindl prägten gemeinsam mit einigen anderen Professoren als Lehrer und Forscher eine ganze Generation von Ökonominnen und Ökonomen in Österreich.
Beide Wissenschafter trugen entscheidend dazu bei, den Keynesianismus in Österreich einzuführen und ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Der Keynesianismus stellt die Vollbeschäftigung als wirtschaftspolitisches Ziel in den Vordergrund und hat damit ein besonderes Naheverhältnis zur Sozialdemokratie und zu den Gewerkschaften. Die effektive Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen ist in dieser Theorie die treibende Kraft der Beschäftigung – nicht der niedrige Lohn. Die Kaufkraft der Bevölkerung spielt somit eine wichtige Rolle. Die Auswirkungen des Konzentrationsprozesses der Wirtschaft (Monopol- und Oligopolbildung) auf Preise, Löhne und Investitionen interessierte unsere beiden Ökonomen in besonderem Maße, da die alte Theorie der „vollkommenen Konkurrenz“ durch die neueren wirtschaftlichen Entwicklungen infrage gestellt wurde.
Kurt Rothschild (1914–2010) hat sich besonders als Preis- und Verteilungstheoretiker internationalen Ruf erworben. Er hat 1947 mit seinem bahnbrechenden Artikel „Price Theory and Oligopoly“ die Entwicklung der Preistheorie entscheidend beeinflusst. Im Unterschied zur herrschenden Lehre, die Firmen hilflos den Märkten ausgesetzt sah, rückte Rothschild das strategische Potenzial mächtiger Firmen auf den Oligopolmärkten ins Zentrum der Überlegungen. Denn große Firmen haben in der Regel Macht und Spielraum, ihre Marktlage durch Produktgestaltung, Marketing und Preispolitik aktiv zu beeinflussen.
Rothschild zeigte auch die Bedeutung von Machtfaktoren für die Verteilung auf. Die Einkommensverteilung folgt keineswegs einem ehernen ökonomischen Gesetz, wie viele Ökonomen früher glaubten, sondern sie wird durch Machtfaktoren und politische Weichenstellungen (z. B. Globalisierung) stark beeinflusst. Diese Untersuchungen haben nichts an Aktualität verloren. Wir sehen heute, wie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften durch die Globalisierung und die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland geschwächt wird. Dem Konzentrationsprozess der Unternehmen kann nicht eine Zersplitterung, sondern nur eine Konzentration der Gewerkschaften Paroli bieten.
Arbeitsmarkt- und Lohnfragen waren ein Schwerpunkt von Rothschilds Arbeiten. Als die herrschende orthodoxe ökonomische Theorie die Arbeitslosigkeit nur auf mangelnde Flexibilität der Löhne und des Arbeitsmarktes zurückführen wollte, schrieb er eine Arbeit mit dem Titel „Arbeitslose, gibt’s die?“. Darin zeigte er, dass die Arbeitslosigkeit keineswegs durch zu hohe Löhne und Arbeitslosenunterstützungen gleichsam „freiwillig“ gewählt ist, sondern entscheidend von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage abhängt. Die Arbeitslosigkeit ist angesichts des mäßigen Wirtschaftswachstums als ganz und gar „unfreiwillig“ anzusehen (von Ausnahmen abgesehen). Diese Diskussion über die Ursachen der Arbeitslosigkeit ist heute aktueller denn je. Die Finanzkrise hat wieder gezeigt, wie der Einbruch der Nachfrage die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt.
In den letzten Jahren seines Lebens setzte sich Rothschild notgedrungen mit dem Neoliberalismus auseinander. In einem Interview sagte er: „Der Heiligenschein ist angekratzt, aber der Neoliberalismus ist noch immer sehr stark. Massive wirtschaftliche Interessen ermöglichen offenbar sein Überleben.“
Josef Steindl
Neben Kurt Rothschild zählt Josef Steindl zu den großen und theoriegeschichtlich einflussreichen österreichischen Ökonomen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Steindl (1912–1993) erwarb sich in den Fünfzigerjahren internationalen Ruf durch sein Buch über „Reife und Stagnation des amerikanischen Kapitalismus“. Er erklärte die jahrzehntelange Stagnationstendenz mit dem Konzentrationsprozess der Wirtschaft, der Entstehung von Großkonzernen. Sein Buch wurde vor allem von Marxisten begeistert aufgenommen, da der Konzentrationsprozess des Kapitals eine wichtige Marx’sche Erkenntnis war. Steindl war jedoch kein Marxist. Als er nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrte, empfahl er den Sozialdemokraten, sich mit der keynesianischen Wirtschaftstheorie statt mit der Marx’schen Arbeitswertlehre auseinanderzusetzen.
„Ökonomische Revolution“
Steindl erkannte früh die Bedeutung von Bildung und Technologie für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung. In den Sechzigerjahren verfasste er eine große Studie über Bildungsplanung in Österreich. Er empfahl u. a. eine Ausweitung der berufsorientierten Bildung in Form berufsbildender höherer Schulen. Früher als die meisten anderen Ökonominnen und Ökonomen setzte er sich auch für eine aktive Technologiepolitik ein. Er sah in technischen Innovationen nicht nur ein Instrument zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in hoch entwickelten Volkswirtschaften, sondern auch einen Anreiz für die Unternehmen, in neue Produktionsanlagen zu investieren und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu steigern.
Die keynesianischen Ideen, welche die Bedeutung der effektiven Nachfrage hervorhoben, sah Steindl als eine „ökonomische Revolution“ an. Deshalb sprach er von einer „Konterrevolution“, als die alte neoklassische Truppe in den 1980er-Jahren wieder „auf den Thron“ zurückkehrte. Er verglich das mit der Rückkehr der Bourbonen nach der französischen Revolution. Heute besonders aktuell sind Steindls Ideen zum Budget. Steindl vertrat die These, dass Budgetdefizite meist nicht aktiv herbeigeführt, sondern „erlitten“ werden. Kurz- bis mittelfristig ist es heute offensichtlich, dass hohe Budgetdefizite durch Rezessionen und vor allem Finanz- und Bankenkrisen erlitten werden.
Langfristig entstehen Budgetdefizite dadurch, dass die Investitionen der Unternehmen im Inland und damit auch das Wirtschaftswachstum nachlassen (Verlagerung in Niedriglohnländer). Wirtschaft und Budget geraten aus dem Gleichgewicht, weil Einkommens- und Vermögenskonzentration das Sparen der Privathaushalte weit über die Investitionskredite der Unternehmen hinausgehen lassen. Die Wirtschafts- und Steuerpolitik ist deshalb gefordert, die überhöhten Ersparnisse begüterter Privathaushalte zurückzuführen.
Austro-Keynesianismus
Während für die EU heute ein ausgeglichenes Budget oberste Priorität hat, war für Bruno Kreisky Vollbeschäftigung das oberste wirtschaftspolitische Ziel. Die Wirtschaftspolitik der Kreisky-Ära wurde oft als „Austro-Keynesianismus“ bezeichnet. Dieser Begriff wurde vom WIFO-Chef und späteren Staatssekretär Hans Seidel geprägt. Der Austro-Keynesianismus beruhte auf drei Säulen:
A.
Deficit-Spending (Budgetdefizit) in Krisenzeiten, um Vollbeschäftigung zu sichern,
B.
Hartwährungspolitik zur Inflationsbekämpfung und
C.
Sozialpartnerschaft: Einbindung der Sozialpartner in die Wirtschaftspolitik mit dem Ziel einer gerechten Einkommensverteilung.
Kurt Rothschild, Josef Steindl und die Austro-Keynesianer der Kreisky-Zeit setzten sich immer für eine strikte Regulierung der Finanzinstitutionen ein. Eine Deregulierung der Finanzmärkte wäre ihnen nie in den Sinn gekommen. Die neoliberale Laissez-faire-Politik hat mit der Finanz- und Wirtschaftskrise als Zukunftsmodell ausgedient. Die postkeynesianischen Ideen Rothschilds, Steindls und der Austro-Keynesianer stellen eine Alternative dar.
Kurt Rothschild im Interview mit der A&W, A&W 11/2008
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Der Autor dankt Mag. Alois Guger für wertvolle Hinweise.
Von Ewald Walterskirchen, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/13.
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